Dem Himmel so nah
Eine Reise zur Halligkirche Langeneß
Keine fünf Meter über dem Meeresspiegel liegt die Kirche auf der Hallig Langeneß. Bei Sturmflut schwappt die Nordsee fast bis an die Tür. Doch die Menschen auf den Halligen nehmen das gelassen. Sie haben gelernt, in der Einsamkeit mitten im Meer zusammenzustehen. Aber auch jedem Einzelnen seine Freiheit zu lassen.
Das Abendschiff kommt mit einer halben Stunde Verspätung. Es ist längst dunkel am Fähranleger von Langeneß, wo Johann Petersen auf seine Gäste wartet. Der nasskalte Wind zieht an seiner braunen Wollmütze und dem selbst gestrickten Pullover. Warum die Fähre so lange gebraucht habe, fragt der 48-Jährige mit dem runden Gesicht und dem wild wuchernden Bart, als schließlich alle in seinem alten Golf sitzen. Die Antwort: Ein Passagier hatte den Zwischenhalt an der Hallig Hooge verpasst. Der Kapitän sei dann noch mal umgekehrt, um ihn rauszulassen.
„Wie kriegt man das denn hin, Hooge zu verpennen?“ Petersen – Landwirt, Postschiffer, Ferienhausvermieter und sechsfacher Vater – lacht schnaubend. Dass man deshalb noch mal den Kurs gewechselt hat, findet er nicht weiter bemerkenswert. „Tscha, was sollen die machen? Der Mann kommt ja sonst nicht nach Hause.“
Wie wichtig ist der Einzelne in einer Gemeinschaft? Auf den Halligen im nordfriesischen Wattenmeer stößt man immer wieder auf diese Frage. Kein Wunder eigentlich: 05 Menschen leben auf der Hallig Langeneß auf knapp 12 Quadratkilometern, eingeschlossen vom Meer, das diktiert, wann man hin- und herkommt. Im Frühling und Sommer ist das im Rhythmus von Ebbe und Flut ganz gut berechenbar. Zweimal am Tag fährt dann die Fähre, sie braucht knapp zwei Stunden zum Hafen Schlüttsiel. Bei Ebbe kann man die etwa acht Kilometer zum Festland auch barfuß übers Watt laufen.
Im Sommer sind die zwei Hotels und 36 Ferienwohnungen auf der Insel immer voll besetzt, man zählt hier 20000 Ãœbernachtungen pro Jahr. Im Winter aber sind die Halligbewohner meist unter sich. Johann Petersen liebt diese stillen Monate, in denen nur der Wind, der ungehindert über die flache Insel pfeift, für Unruhe sorgt. „Dann ist es hier echt“, sagt er, dann spüre man, dass man hier nicht „hinterm Deich“ lebe wie auf dem Festland oder auf einer normalen Insel.
Die zehn Halligen vor der Westküste Schleswig-Holsteins, entstanden durch Schlickablagerungen, erheben sich nur wenige Meter über dem Meeresspiegel und werden bei Sturmfluten überspült. Im Herbst und Winter kann das bis zu 20 Mal Vorkommen. Bei einem solchen „Landunter“ ragen nur die 21 Langenesser Warften aus dem Wasser, die aufgeschütteten Hügel. 17 von ihnen sind bewohnt, dort stehen jeweils bis zu neun Häuser eng beieinander.
Auch die Kirche steht auf einer solchen Warft. Seit mehr als 20 Jahren ist Matthias Krämer, 5t, der Pastor von Langeneß. „Hier geht man mit dem Meer auf eine besondere Weise um“, erklärt er. „Man baut keine Bollwerke, um es draußen zu halten, sondern lässt es kommen und wieder gehen.“ Diese spezielle Gelassenheit bemerke er auch im Umgang der Menschen miteinander: „Man weiß, ohne den anderen geht es nicht. Aber man lässt sich auch in Ruhe.“ Krämer ist gebürtiger Hamburger und nicht der Typ Inselpastor, der mit den Leuten abends Rum trinkt oder beim Kalben mit anpackt. Er ist ein ruhiger, eher intellektueller Mann, seine Sonntagsgottesdienste sprechen die Touristen wie die Einheimischen an, die ganz überwiegend Kirchenmitglieder sind. Seine Rolle als Pastor sieht Krämer weniger als Leitfigur – dafür seien die Halligbewohner zu selbstbewusst – als darin, als Ansprechpartner einfach da zu sein, geistliche Impulse zu geben und manchmal auch „für mehr Helligkeit“ zu sorgen. Das habe er in seinem ersten Winter auf Langeneß gelernt, erzählt er. Es war Januar oder Februar, er hatte für den Kirchenchor ein Taizé-Lied in Moll ausgesucht. Nach dem ersten Durchgang sei eine Frau aufgestanden: „Nein, das können wir nicht singen! Nicht jetzt!“ Krämer verstand: Wenn sich seit Monaten die Dunkelheit schon am Nachmittag auf die Hallig legt und nirgends von Straßenlaternen oder beleuchteten Schaufenstern durchbrochen wird, dann braucht es etwas Fröhliches, Helles, Lautes. Kein Moll, sondern eben Dur.
Virginia Karau kennt das: die Sehnsucht danach, dass die Tage wieder lang und hell werden. Die schmale 38-Jährige mit den langen dunklen Haaren führt mit ihrem Mann eines der beiden Hotels, sie gehört zum Kirchenvorstand, leitet ein Akkordeonorchester und spielt im Gottesdienst die Orgel – manchmal sogar in Langenesser Tracht. „Auf der Hallig ist man dem Himmel zu jeder Jahres zeit ganz nah“, sagt sie. Aber es mache einfach glücklich, wenn im Frühling die Lerchen fliegen oder im Sommer der Halligflieder die Wiesen blau-violett überzieht. Dann treffen sich die Inselbewohner wieder häufiger untereinander – wenn auch für ihren Geschmack nicht genug. Sie wünscht sich ein lebendigeres Gemeinschaftsleben und sieht da auch ihre Kirchengemeinde in der Pflicht. „Wir könnten die Leute noch mehr zusammen bringen: Kindergruppen anbieten, etwas für junge Familien.“ Denn davon gibt es auf Langeneß immer mehr. Die Schule hatte vor wenigen Jahren noch zehn Schüler, heute sind es 20, die in den Klassenstufen 1 bis 9 lernen.
Für Halligverhältnisse ist das viel, aber die Zahl der gleichaltrigen Spielkameraden ist dennoch sehr begrenzt. Wie überall auf der Hallig gilt: Man hat keine Wahl. Es gibt nur einen Kindergarten, eine Schule, eine Kirchengemeinde, einen Verein (die freiwillige Feuerwehr). „Wenn mir etwas nicht passt, kann ich nicht einfach woandershin wechseln oder mir neue Leute suchen“, sagt Virginia Karau. Man müsse lernen, sich zu arrangieren.
Dem stimmt Johann Petersen zu: „Man müsse sich hier schon an gewisse Regeln halten“, sagt er. Offen und hilfsbereit sein und vor allem eines beherzigen: „Was mein Nachbar auf seinem Grundstück tut, geht mich nichts an.“ Missgünstig durch den Zaun gucken geht gar nicht. Schließlich sei man aufeinander angewiesen – spätestens dann, wenn sich eine Sturmflut ankündigt und die Schafe, Rinder und Ziegen auf die Warften geholt werden müssen.
Die Langenesser mussten in ihrer Geschichte immer wieder lernen, sich neu zu arrangieren. Davon erzählt Pastor Krämer beim Gang durch die Kirche. Der 1894 errichtete Ziegelsteinbau hat ein Reetdach und drei hohe Fenster zur Südseite. Die Bänke im Innenraum sind in einem gedeckten Blaugrün gestrichen. Von der holzgetäfelten, reich bebilderten Decke hängt ein weiß-blaues Schiffsmodell. Solche Votivschiffe gespendet von reicheren Gemeindemitgliedern sind in fast allen küstennahen Kirchen zu finden.
Die zur See fahrenden Männer der Gemeinde waren auf diese Weise symbolisch beim Gottesdienst dabei, berichtet der Pastor. Seit dem 17. Jahrhundert gingen viele Langenesser auf Walfang. Sie wurden im Februar mit einem mächtigen Feuer verabschiedet, dem Biikebrennen, dessen Tradition als großes Halligfest sich bis heute erhalten hat. Ein Dreivierteljahr stemmten die Frauen den Alltag dann überwiegend alleine, bewirtschafteten die Höfe, kümmerten sich um die Tiere, die Kinder und die Alten. Im November, wenn die Schiffe zurückkehrten, mischte sich in die Wiedersehensfreude immer auch Trauer: Viele Männer kamen nicht lebend zurück, anderen war über das Jahr die Frau gestorben, etwa im Kindbettfieber. Der November und Dezember sei dann die Zeit der Neuordnung gewesen, sagt Krämer. Im Advent habe es überdurchschnittlich viele Hochzeiten gegeben. Und im Februar mussten sich die frisch getrauten Paare dann auch schon wieder trennen.
Anders als in anderen Gemeinden spiegelte sich der Einsatz der Frauen offenbar auch im gesellschaftlichen Ansehen wider. In der Kirche sind auf den hölzernen Gedenktafeln für verdiente Gemeinde-mitglieder auch einige Frauennamen aufgeführt. Der Einzelne ist auf Langeneß wichtig. Und die Einzelne auch.
Die Halligkirche von Langeneß
Langeneß ist die größte der zehn Halligen im nordfriesischen Wattenmeer vor der Westküste Schleswig-Holsteins. Die 115 Einwohner leben auf 17 Warften, aufgeschütteten Hügeln, die sie vor den Sturmfluten schützen sollen. Auf der Kirch-warft steht die Kirche von Langeneß. Sie wurde 1894 auf den Fundamenten eines Vorgängerbaus errichtet. Da sich durch die Sturmfluten im Laufe der Jahrhunderte die Gestalt der Insel oft verändert hat, mussten auch immer wieder ältere Kirchen aufgegeben werden. So ist der Flügelaltar von 1670 aus einer früheren Halligkirche in das jetzige Gotteshaus übernommen worden. Er ist eine Stiftung zweier Langenesser Schiffer und zeigt das Abendmahl und die Kreuzigung Jesu. Auch die bemalte Holzdecke stammt aus einem früheren Kirchbau. Die Decke ebenso wie das Mauerwerk und das Reetdach der Kirche müssen dringend saniert werden. Die Stiftung KiBa fördert dieses Vorhaben.
Von Hanna Lucassen
Dieser Artikel erschien zuerst im Stifungsrundbrief "KiBa aktuell". Den können Sie auch kostenlos abonnieren, vier Mal im Jahr kommt er dann zu Ihnen ins Haus. Interesse? Dann melden Sie sich im Stiftunsgbüro - per Telefon, Post, oder E-Mail.