Christuskirche Schliersee (Bayern)
Christuskirche Schliersee (Bayern)

Die Jahre des rohen Betons

Die Markuskirche in Weinheim und die Christuskirche in Schliersee

Sachlich und nüchtern sind die Kirchen der 1950er und 1960er Jahre. Damals entstanden viele neue Gotteshäuser in Deutschland, meist im Stil des Brutalismus. Wände und Säulen sind oft aus grauem Sichtbeton. Trotz ihrer kühlen und oft kargen Gestalt schätzen die Gemeinden am Ort ihre Kirchen – zum Beispiel die Markuskirche in Weinheim und die Christuskirche in Schliersee.

Der Sprung hätte nicht größer sein können. Nach vielen Jahren, in denen Simone Britsch in einer malerischen Barockkirche als Pfarrerin tätig war, wechselte sie vor einem dreiviertel Jahr an die Markuskirche im badischen Weinheim: einen Betonbau von 1958 mit Platz für 400 Personen. Manchmal kommen Bekannte der Pfarrerin aus ihrer alten nahegelegenen Gemeinde zu Besuch. „Sie laufen durch den langen Mittelgang, schauen etwas betreten und fragen: Simone, fühlst du dich hier wohl?" Simone Britsch, 54, ist eine zierliche blonde Frau, die sich mit Kunstgeschichte beschäftigt und die Ästhetik in den Dingen sucht. Die Markuskirche macht es ihr nicht leicht. Der Innenraum ist nicht schön im landläufigen Sinne, das sieht sie ebenso wie ihre Freunde. Zu groß und zu kühl, um gemütlich zu wirken. Zu unterschied lieh die Stilelemente, um Harmonie zu vermitteln. Im Altarraum sind die Wände und viereckigen Säulen aus dunkelgrauem Sichtbeton. Das hat etwas von Bunker oder Festung. Für Simone Britsch symbolisiert dieses Material die Mühsal des Lebens und den Schrecken des Zweiten Weltkrieges. „Ich stelle mir vor, dass die Menschen, die diese Kirche bauten, viel Dunkles gesehen haben und diese inneren Bilder in den Bau einflossen."

Die obere Hälfte der Seitenwände besteht aus roten, unglasierten Steinen, Kriegstrümmer aus Mannheim. „Eine Mahnung, nicht zu vergessen!" Ãœber die untere Hälfte zieht sich eine durchgehende Glasbildwand. In vielen strahlend bunten Einzelbildern setzte der Künstler Klaus Arnold das Glaubensbekenntnis um. „Nach all dem Dunkel der Wunsch der Menschen nach Licht und Farbe", so sieht es Simone Britsch.

Ein verbindendes Stilmittel gibt es doch: rechte Winkel und gerade Linien. Das sollte die Struktur der damals ganz jungen Siedlung im Westen von Weinheim aufnehmen. Auch hier herrschte Symmetrie und Gleichförmigkeit: Die Häuschen und Gärten waren akkurat abgemessen, die Straßen im Schachbrettmuster angelegt. Kriegsheimkehrer, Ausgebombte, Flüchtlinge und Heimatvertriebene zogen in diesen neuen Stadtteil. 1950 gründete sich die evangelische Markusgemeinde. Sie feierte ihre Gottesdienste zuerst in einem Backhaus und hatte schon etwa 4000 Mitglieder, als die Markuskirche endlich stand.

„Ab 1950 brachen die modernistischen Gotteshäuser wie eine Welle über das zerbombte Land", schrieb Fachjournalist Christian Tröter in einer Architekturzeitschrift über den Baustil der Nachkriegszeit. „Von 1948 bis Anfang der 1960er Jahre wurden in der Bundesrepublik Deutschland rund 8000 Sakralbauten errichtet – mehr als in den 400 Jahren zuvor." Auch im Osten Deutschlands entstanden einige Hundert neue Kirchen, aber unter ungleich schwierigeren Bedingungen. So waren vor allem die Kirchen in Westdeutschland oft spektakulär. Sie demonstrierten den „Willen zur Avantgarde und Modernität" und suchten nach der Katastrophe sichtbar nach neuen architektonischen Wegen.

Viele Kirchenarchitekten verwendeten Sichtbeton im Stil des Brutalismus – der Begriff leitet sich vom französischen „beton brat" (roher Beton) ab. Zum einen, weil sie damit plastisch bauen konnten, zum anderen, weil die Rohheit des Materials für sie auch für die Echtheit und Wahrheit in der Verkündigung stand. Beliebt waren Kirchen in Form von Zelten oder Schiffen. Diese bezogen sich oft auf das Motiv des Gottesvolkes, das keine bleibende Stätte auf Erden hat. Eine solche zeltartige Kirche ist die evangelische Christuskirche im oberbayrischen Schliersee. Das weiße Gebäude von 1954 steht an einem Hang am Ortsrand. Auf dem Parkplatz gegenüber starten viele Wanderer ihre Tagestour in die Berge. Der Grundriss ist ein unregelmäßiges Achteck, die fensterlosen Wände ziehen sich oben zu einer Dachspitze aus Glas zusammen. Durch diese scheint das Licht hinein und wandert im Tagesverlauf durch den weiß getünchten Raum. „Eine Kirche sollte sein wie zwei Hände, die sich schützend um die Gemeinde legen", hat der Architekt Olaf Andreas Gulbransson seinerzeit erklärt. Gulbransson war mit einfachen Formen, neuen Baustoffen und seiner Zeltarchitektur für den evangelischen Kirchenbau in den 1950er Jahren richtungsweisend. Er entwarf insgesamt 28 Kirchen. Die Christuskirche war sein erster Bau. Pfarrer Matthias Striebeck gefällt die Kirche gut. Der 51-Jährige teilt sich mit seiner Frau, die auch Pfarrerin ist, die Gemeindearbeit. Mit seinen langen Locken, der Nickelbrille und den Cowboystiefeletten fällt er ein bisschen aus dem Rahmen des bayrischen Voralpenidylls. Er ist Notfallseelsorger, engagiert sich in der Flüchtlingsarbeit und für das Kirchenasyl.

Die Christuskirche ist eine von vier Kirchen der Gemeinde, alle in den 1950er Jahren gebaut. Für Striebeck ist sie „eine ganz besondere". Er liebt die klare Architektur, die vom Bauhausstil ebenso inspiriert wurde wie von der norwegischen Volkskunst. Und natürlich die Jesusfigur, die von der Decke schwebt und mehr wie der Auferstandene, nicht wie der Gekreuzigte wirkt. „Eine Religion soll trösten, nicht ängstlich machen", sagt der Pfarrer.

Seine weitläufige Gemeinde hat heute 1500 Mitglieder. „1903 zählte man hier in der katholischen Region einen einzigen Protestanten", sagt Striebeck, „1945 waren es 3500." Reiche und Adelige verließen die zerbombten Städte und schlüpften in ihren Feriensitzen hier auf dem Land unter. Dazu kamen Vertriebene und Flüchtlinge. „Plötzlich brauchte man händeringend protestantische Kirchen. Aber als die dann standen, waren die Protestanten wieder weg."

Die vier neuen Kirchen waren nun zu viele für die kleine Gemeinde. Die Christuskirche ist deshalb seit 2011 eine „Sommer- und Kulturkirche", die im Winter geschlossen ist. Bei den wöchentlichen Konzerten bei Kerzenschein ist sie fast immer voll. Zum Samstagabend-Gottesdienst kommt dagegen nur ein Dutzend Menschen. Beliebt ist die Kirche bei Brautpaaren. Zehn Hochzeiten gab es im vergangenen Jahr. Die meisten Paare kommen aus München, manche aber auch aus Hamburg oder den USA.

Zu Simone Britsch in die Weinheimer Markuskirche kommen keine Hochzeitstouristen. Aber die heute knapp 5000-köpfige Gemeinde schätzt ihre Kirche und die Gemeinderäume und feiert dort ihre Feste. Einmal traute die Pfarrerin ein junges Paar aus der Gemeinde. Die Familie schmückte die Kirche mit Blumen, ließ einen Teppich auslegen und über die Stühle weiße Hussen ziehen. Die Pfarrerin staunte, wie die Kirche aufblühte. Nach dem Abräumen aber spürte sie fast so etwas wie Wiedersehensfreude mit dem ursprünglichen Kirchenraum. „Hier hat alles Platz: Angst, Schuld, Freude, Hoffnung. Es passt vielleicht nicht alles zusammen, aber das tut es im richtigen Leben ja auch nicht." Den Freunden, die sie fragen, ob sie sich wohlfühlt, antwortet sie übrigens mit Ja.

Von Hanna Lucassen

Dieser Artikel erschien zuerst im Stifungsrundbrief "KiBa aktuell". Den können Sie auch kostenlos abonnieren, vier Mal im Jahr kommt er dann zu Ihnen ins Haus. Interesse? Dann melden Sie sich im Stiftunsgbüro - per Telefon, Post, oder E-Mail.