Himmel und Erde miteinander verbinden
Ein Besuch in der Glockenstadt Apolda in Thüringen
Kirchenglocken bestimmten und bestimmen noch heute den Tagesrhythmus der Menschen in Stadt und Land. Sie rufen zum Gebet, läuten zu Weihnachten, Hochzeiten und Todesfällen, warnen vor Hochwasser und Feuer. Wie sie klingen, das hängt von der Kunst der Glockengießermeister ab.
Apolda, Bernhardstraße 45. Eine schöne alte Backsteinfassade. Eigentlich firmiert unter dieser Adresse eine Druckerei, doch einen Teil seiner Geschäftsräume hat der Grundstücksbesitzer dem Freundeskreis des Glockenmuseums zur Verfügung gestellt. Denn der Schriftzug überm Straßentor besagt es: Hier gab es mal eine Glockengießerei. Zu besonderen Anlässen, wie heute dem Besuch des KiBaTeams, öffnen sich die Türen zu den hinteren Räumen und machen den Blick auf eine unglaubliche Sammlung möglich.
Ausstellungstafeln, Fotos, Bilder, historische Dokumente, Werkzeuge. Dutzende, wenn nicht Hunderte. Urkunden, Plaketten, Zeitungsausschnitte, Schnappschüsse und Zeitzeugenprotokolle, die Wände hängen voll, Regale und Schränke sind eng bestückt. Alles ist etwas staubig und alt, doch jedes Teil ist geschichtsträchtig und voller Geschichten. In der Ecke steht sogar noch der alte Gießofen. Wir sind in den Räumen der ehemaligen Glockengießerei Schilling in Apolda.
Mit ein bisschen Fantasie kann sich die Besucherin zurückversetzen: Wie es hier geraucht und gequalmt hat, wenn endlich der Tag des Glockengusses kam. Wenn der Ruf des Meisters erscholl: „Gossen frei!“ Wenn er den Ofen öffnete, sich die flüssige und glühende „Metallspeise“, ein ganz spezielles Gemisch aus Kupfer und Zinn, in die gemauerten Holzrinnen ergoss, schimmernd bis zu den kleinen Löchern in der gestampften Erde floss und heiß dampfend den schmalen Hohlraum zwischen den verschiedenen Glockenformen aus Ziegelsteinen und Lehm füllte.
Meistens waren Zuschauerinnen und Zuschauer aus den Kirchgemeinden dabei, für die die neu gegossenen Glocken bestimmt waren. Vielleicht haben sie gesungen, vielleicht auch ein Gebet gesprochen. Und dann der Moment ein paar Tage später, wenn sich das Metall abgekühlt hatte, wenn die angetrockneten Lehmschichten abgeschlagen wurden und die fertige Glocke aus Metall zum Vorschein kam. Wochenlang hatten die Männer (ja, früher waren es nur Männer) geschuftet, jetzt war der Moment gekommen, an dem sich zeigen sollte, ob ihre Arbeit von Erfolg gekrönt oder zum Scheitern verurteilt war. Mit einer Stimmgabel schlug der Meister an der Glocke die Töne an, die Glocke „antwortete“. Stimmte der Klang auftragsgemäß?
Die Geschichte der Glockengießerei in Apolda beginnt 1722 mit dem ersten Glockengießermeister Johann Christoph Rose. Eine von ihm gegossene Glocke hängt noch heute in der Lutherkirche der thüringischen Stadt. Apolda entwickelte sich im Laufe von über 200 Jahren zur deutschen „Glockenstadt“, ein Titel, mit dem die Stadt noch heute Touristen anlockt. Über 50 000 Glocken wurden hier gegossen und in die ganze Welt geliefert. Von Südamerika bis Australien, von Hamburg bis Jerusalem. Es gab verschiedene Familienunternehmen, eines der bekanntesten: die Gießerei Schilling.
Dietmar Hauser ist ein Abkömmling dieser Dynastie. Seine Mutter Margarete war mit ihm als Sohn aus erster Ehe nach Apolda gekommen, hatte dort den Glockengießer Peter Schilling geheiratet. Er war der Handwerksmeister; sie forschte und schrieb über die Glocken und gilt heute als „Grande Dame“ der Glockenhandwerkskunst in Deutschland. 2023 bekam sie vom damaligen thüringischen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow dafür das Bundesverdienstkreuz überreicht.
Sohn Dietmar wurde Pfarrer, lebte und wirkte in Seligenthal / Schmalkalden und, ja, „natürlich“ gab es in seiner Kirche auch eine Glocke aus Apolda. Nach seiner Pensionierung zog er nach Apolda zurück und ist heute im „Freundeskreis GlockenStadtMuseum“ aktiv.
„Schilling und Söhne“ war berühmt für seine Qualität, Dietmar Hausers Urahn Franz Schilling wurde 1895 gar zum „Hofglockengießermeister“ ernannt, der die große Ehre hatte, Glocken für die Berliner KaiserWilhelmGedächtniskirche zu fertigen: Elf Kanonen mussten für eine eingegossen werden, heißt es in einem Protokoll.
Noch bis in die Nachkriegszeit florierte das Familienunternehmen. Über 20.000 Glocken wurden hier gegossen, darunter auch die berühmte große Glocke für die KZGedenkstätte in Buchenwald. All das endete 1972 mit der Zwangsenteignung und Verstaatlichung. Aus dem privat geführten Unternehmen wurde ein volkseigener Betrieb, erst noch mit dem Ehepaar Schilling in der Geschäftsführung, später übernahmen die Genossen ganz. Der Sohn erinnert sich bitter: „Der Betrieb wurde einfach heruntergewirtschaftet.“
Ein Schicksal, das die Schilling-Gießerei mit vielen anderen Familienunternehmen in der DDR teilte. 1988 wurde der nicht mehr geschäftsfähige Betrieb komplett geschlossen. Übrig blieben die Räume in der Bernhardstraße mit ihrer unglaublichen Sammlung und den vielen Erinnerungen an eine großartige Handwerkstradition.
In die „Alte Glockengießerei Apolda“ ist heute auch Volker Heerdegen gekommen, bis 2021 stellvertretender Bürgermeister von Apolda. Mit großer Leidenschaft kämpft der studierte Ingenieur seit vielen Jahren für die Aufrechterhaltung der Glockengießtradition in Apolda. An diesem Tag gibt es viele Geschichten für das KiBaTeam. Von großen und kleinen Glocken. Von konkurrierenden Familienunternehmen, von Gusstagen, Glockenordnungen und den Problemen, in der DDRZeit die richtigen Rohstoffe zum Glockengießen zu beschaffen. Und dann vor allem die Geschichte vom „dicken Pitter“, der Petersglocke im Kölner Dom, 1923, mitten in der Wirtschaftskrise, in Apolda gegossen. Mit einem Gewicht von 24 Tonnen und einem Durchmesser von 3,22 Metern zählt diese zu den größten freischwingenden Glocken der Welt.
2023 feierte Apolda den 100. Jahrestag des Gusses. Es war ein rauschendes Fest, an das Volker Heerdegen gerne und oft zurückdenkt. Wirklich viele neue Glocken werden in Deutschland nicht mehr gegossen, nur wenige Kirchen werden neu gebaut. Doch auch wenn die große Zeit der Glockengießereien vorbei sei, heiße das noch lange nicht, so Volker Heerdegen, dass das Gedenken an die reiche Geschichte dieser ganz besonderen Handwerkskunst verblassen sollte. Glocken seien mehr als nur eine tönende Erinnerung an die Tageszeit oder ein Lebensereignis. Sie stellten eine Verbindung her, zwischen Himmel und Erde, zwischen der eigenen Endlichkeit und dem Universum. Oder um es mit den Worten von Friedrich Schiller und seinem „Lied von der Glocke“ zu sagen: „Und wie der Klang im Ohr vergehet, der mächtig tönend ihr entschallt, so lehre sie, dass nichts bestehet, das alles Irdische verhallt.“
Ausstellungen in Apolda
Das große öffentliche „GlockenStadtMuseum“ in Apolda ist derzeit wegen Renovierung geschlossen. Es gibt jedoch in den Räumen eines Industriebaus eine kleine Auswahl an Glocken, Fotos, Zeitzeugenberichten zu sehen. Das von Egon Eiermann in den 1930er Jahren grundsanierte Gebäude hat neben vielen öffentlichen Flächen auch Platz für die temporäre Glockenausstellung.
Von Dorothea Heintze
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- www.glocken-museum-apolda.de
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