St. Marien Stöckey (Thüringen)
St. Marien Stöckey (Thüringen) Nora Klein

Maria bleibt in Stöckey

Eine Mutmachgeschichte aus dem Eichsfeld

Seit Jahrhunderten ist die St.-Marien-Kirche das Wahrzeichen von Stöckey. Doch der solide wirkende Bau drohte zusammenzustürzen. Die Dorfbewohner jedoch wollen den Verlust ihrer Kirche nicht hinnehmen.

Wunderbar, wenn in einem offenen Cabrio der Wind sanft im Haar spielt; bei der unbedachten Dorfkirche von Stöckey stehen einem die Haare zu Berge, weil der Wind von oben durchs Gemäuer fegt. Das Kirchenschiff ist in Gerüste eingepackt. Wo einmal ein Satteldach die Gläubigen vor den Unbilden der Witterung schützte, ragt nur noch der nackte Dachstuhl auf. Mit Planen verhüllt wirkt der Bau, als wolle das Dorf dem Verpackungskünstler Christo die Ehre erweisen. An einem zugigen Tag kurz nach Ostern schlagen und knistern die Kunststoffbahnen wie die Segel auf einem Windjammer. Doch das Meer ist weit, denn die Kirche St. Marien steht im Eichsfeld im Nordwesten Thüringens.

Dass sie überhaupt noch steht, verdankt sie nicht zuletzt dem Projektplaner Sixtus Hermanns. Über drei Jahrzehnte hat der Bauingenieur sein Auge in der Denkmalpflege für und an Bauschäden aller Art geschult. Wo ein Riss im Putz oder eine nasse Stelle den Blick von Laien allenfalls ärgert, da laufen bei ihm sofort analytische Denkprozesse: „In meinem Metier“, erklärt der Bauplaner, „muss ich vom kleinsten Detail unmittelbar zur Gesamtkonstruktion eines Gebäudes denken können und von dort wieder zurück.“ Und nicht selten stellt sich der kleine Riss oder der nasse Fleck als die buchstäbliche Spitze des Eisbergs heraus. Dann ist guter Rat teuer; im kleinen Stöckey viel zu teuer. 

Für die Gemeinde war es ein Schock, dass man die Kirche vor rund 15 Jahren eigentlich hätte sofort zusperren müssen. Denn wie die der Heiligen Jungfrau geweihte spätgotische Saalkirche so dasteht, wirkt sie grundsolide und von geradezu gemütlicher Gedrungenheit. Im Osten ein polygonaler Chorabschluss, im Westen ein eingezogener Glockenturm, ringsum Rasen. Ein mit Schiefer gedeckter achtseitiger Turmhelm und vier Fialtürmchen machen das ortsbildprägende Gebäude zu einem Hingucker. Das Dorf liebt seine Kirche – und das nicht ohne Grund: Sie ist schmuck, außen wie innen, wo rustikaler Bauernbarock den Ton angibt.

Das Elternhaus von Doris Grundmann, einer der vier Kirchengemeinderätinnen von Stöckey, stand gleich neben der Kirche. Wo sie einst geboren wurde, ist heute ein Parkplatz. Doch so komme der Kirchturm erst richtig zur Geltung, meint die Rentnerin. Direkt neben dem Eingang zum Kirchhof steht ein Brunnen, zu Ostern prächtig geschmückt mit Zweigen und großen bunten Eiern. Die ehemalige Lehrerin für Geschichte und Deutsch hat ihn mit Schülerinnen und Schülern ihrer Schule aus dem Nachbarort geschmückt. Der Osterbrunnen war eine Projektarbeit, für sie selbst auch eine Herzensangelegenheit. Denn sie möchte, dass die jungen Menschen ihre Lebenswelt verstehen lernen, zu der gehören: Brauchtum, Geschichte und Gebäude. Wie zum Beleg für die Bedeutung der Heimatverbundenheit erzählt sie von der Goldkonfirmation im vergangenen Jahr. Wie sie in Zelten und unter Pavillons direkt an der Kirche gesessen haben, nur auf Tuchfühlung, weil sie nicht hineinkonnten zum Feiern. Manche waren zum ersten Mal seit langen Jahren überhaupt wieder hier, viele mit Tränen in den Augen. 

Die St.-Marien-Kirche in Stöckey wird mit Hilfe der KiBa saniert

Die St.-Marien-Kirche in Stöckey wird mit Hilfe der KiBa saniert (c) Nora Klein

Die St.-Marien-Kirche in Stöckey wird mit Hilfe der KiBa saniert

Die St.-Marien-Kirche in Stöckey wird mit Hilfe der KiBa saniert (c) Nora Klein

Projektplaner Sixtus Hermanns zeigt der KiBa-Geschäftsführerin Catharina Hasenclever und dem Autor die Schäden an der Kirche

Projektplaner Sixtus Hermanns zeigt der KiBa-Geschäftsführerin Catharina Hasenclever und dem Autor die Schäden an der Kirche (c) Nora Klein

Projektplaner Sixtus Hermanns zeigt der KiBa-Geschäftsführerin Catharina Hasenclever und dem Autor die Schäden an der Kirche

Projektplaner Sixtus Hermanns zeigt der KiBa-Geschäftsführerin Catharina Hasenclever und dem Autor die Schäden an der Kirche (c) Nora Klein

Die Kirche mit einer Tonnendecke im schönsten Bauernbarock braucht an vielen Stellen die Hilfe von Fachleuten

Die Kirche mit einer Tonnendecke im schönsten Bauernbarock braucht an vielen Stellen die Hilfe von Fachleuten (c) Nora Klein

Arbeiten am Dachstuhl der Kirche

Arbeiten am Dachstuhl der Kirche (c) Nora Klein

Hermanns mit Damen des Gemeindekirchenrats

Hermanns mit Damen des Gemeindekirchenrats (c) Nora Klein

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Wenn Sixtus Hermanns solche Geschichten hört, dann richtet es ihn sichtbar auf. Er brennt für die Sache, auch wenn seine Arbeit oftmals der des Sisyphus gleicht. Das Zusammentragen von Geldern kostet Zeit und Nerven. Aber eine Finanzierung muss stehen, bevor sich irgendwas bewegt. Er kümmert sich, unterstützt, ermutigt. Die Notfälle an „Dach und Fach“ sind dann handhabbar, weil ihm immer etwas einfällt, was „nachhaltig-denkmalpflegerisch“ ist. Und wenn sich, wie an jenem Tag der Osterwoche, die Geschäftsführerin der Stiftung KiBa, Catharina Hasenclever, einfindet, ist das nicht nur für die drei versammelten Damen des Kirchgemeinderats ein freudiges Ereignis, sondern auch für ihn, den Spiritus Rector in Baufragen. Denn man will zeigen, was sich tut. Und tatsächlich entwickelt sich die Baubegehung unter seiner Führung zu einer Art Thriller. Es beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Herrschaftsloge der Kirche abgebrochen wird. Auch aus ideologischen Gründen? Darüber darf spekuliert werden. Unstrittig ist allerdings, dass das große Loch in der Wand des Langschiffs außen wie innen mit ziemlich dünnen Mäuerchen verschlossen wurde. Als sich später der echte Hausschwamm im Dachstuhl breitmachte und ihn allmählich auflöste, begann auch die Wand darunter instabil zu werden. Eile war geboten. Denn das inzwischen mit massiven Holzstützen, Ketten und Spanngurten in Form gehaltene Gebäude drohte einzustürzen wie ein Kartenhaus. Sabine Heydrich, Vorsitzende des vierköpfigen Gemeindekirchenrats Stöckey, erinnert sich mit Schrecken an die Hiobsbotschaft: „Was nützt uns ein saniertes Dach, wenn die Kirche darunter zusammengebrochen ist?“

Das wird nun nicht mehr passieren, die Wand wurde massiv neu aufgemauert. Oben, wo der Dachstuhl auf der Mauer liegt, ergänzen die Zimmerleute, was der Schwamm vernichtet hat, und richten, was nur noch wie durch Zufall zusammenhält. Es riecht nach frischem Holz. Die Werkzeuge und Maschinen sehen aus wie aus dem Baumarkt, allerdings allesamt im XXL-Format. Doch ihre Arbeit am alten Gebälk ist feinfühlig und präzise. Die Fachleute ziehen bald hier und heben dort, fügen und fixieren, bis alles wieder so ist, wie ihre Kollegen es vor Jahrhunderten hingestellt hatten. Das meiste ihrer Arbeit wird am Ende unsichtbar sein, doch die verborgene Schönheit der von ihnen geschaffenen Holzverbindungen wird zur Strahlkraft des ertüchtigten Gotteshauses beitragen: Hier vollzieht sich kein Fake, sondern Bauen mit Herz, Hand und Verstand.

Sixtus Hermanns hat noch etwas zu zeigen und bittet Catharina Hasenclever in den Kirchturm. Nach einer abenteuerlichen Kletterpartie wird hoch oben ein dickes Stahlseil sichtbar. In kargen Zeiten hatte man das morsche Dach des Kirchenschiffs mit viel Gottvertrauen einfach an den Turm angebunden. Dass hier im Dämmerlicht ein weiterer Bauabschnitt ruht, ist der Geschäftsführerin sogleich einsichtig: Von der Last des Kirchendachs befreit, bedarf der Turm nunmehr eigener Sanierung. Die Damen vom Gemeindekirchenrat sind erleichtert, denn sie kämpfen entschlossen um jeden Cent. Als Stöckey bei der MDR-Spielshow um die „himmlischen 400 000 Euro“ der Stiftung KiBa im November 2023 auf Landesebene gegen Schöngleina antrat, „da hatten wir natürlich schon die Hoffnung, auf einen Schlag aus dem Gröbsten herauskommen zu können“, erinnert sich Sabine Heydrich. Doch es wurde nichts mit dem Hauptpreis. „Wir sind nun aber keine schlechten Verlierer“, hält Doris Grundmann fest, „auf dem Rückweg im Bus haben wir die ganze Zeit gesungen.“ Der „Trostpreis“ von 10 000 Euro ist längst in die Kirche geflossen. Sie werden einfach weitermachen in Stöckey, mit Festen, mit Benefizkonzerten und ihrem Weihnachtsmarkt. „Hier werden nicht nur Dach und Fach, sondern vor allem der Gemeinschaftssinn einer lebendigen Gemeinde gefördert“, ist sich Catharina Hasenclever sicher. „Wir erleben jetzt schon, was Spenden bewirken können. Aber langer Atem und viel Unterstützung sind weiter nötig.“

Von Thomas Rheindorf

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