Sterne, Kühe, Weihnachtsmützen
„Lebendiger Adventskalender“ in Witzin
Zum „lebendigen Adventskalender“ treffen sich die Menschen in dem kleinen mecklenburgischen Dorf Witzin jeden Werktag im Dezember bei einem anderen Nachbarn. Jedes Mal gibt es etwas zu essen und zu trinken, oft Lieder, eine Andacht oder eine kleine Aufführung. Und das Schönste daran ist: Die adventlichen Feiern schaffen eine Gemeinschaft in dem Dorf, das zuvor im Streit gespalten war
Gertjan Brink stellt sich auf ein paar Strohballen und hebt die Stimme: „Was habt Ihr für ein Glück heute Abend! Ihr seid live dabei, wenn eine Kuh kalbt!“ Der hochgewachsene 51-Jährige mit dem freundlichen Gesicht trägt Gummistiefel, eine grüne Arbeiterhose und eine warme Outdoorjacke. Er leitet die Witziner Milchviehanlage mit 600 Kühen und ist gewohnt, dass man ihm zuhört. Auch wenn er heute nicht zu Mitarbeitern spricht, sondern zu etwa vierzig Leuten aus seinem Dorf. Diese schauen ihn etwas verwundert an angesichts der angekündigten Niederkunft in der spärlich beleuchteten Scheune an diesem kalten, regnerischen Winterabend. Zwar steht hinter Brink in einer mit Stroh bedeckten, abgetrennten Ecke tatsächlich eine Kuh. Aber eben auch deren Kalb, das offenbar das Licht der Welt bereits erblickt hat.
Es ist der 11. Dezember, heute ist Brink Gastgeber beim „lebendigen Adventskalender“ in Witzin, einem kleinen Dorf zwischen Schwerin und Rostock. Jeden Abend im Dezember um 18 Uhr öffnet ein anderer Einwohner seine Tür und lädt für etwa eine halbe Stunde zum Bleiben ein, in den Vorgarten, die Gartenhütte, oder eben, wie bei Gert j an Brink, in die Scheune. Immer gibt es etwas zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen, manchmal auch Lieder, Andachten, kleine Aufführungen. Jeder gestaltet das auf seine Weise, sagt Organisatorin Heidrun Schmidt von der evangelischen Kirchengemeinde Witzin und erläutert den Grundgedanken: „Man kann zeigen, was man persönlich mit dem Advent verbindet. Und den anderen gleichzeitig einen Einblick in die eigene Lebenswelt geben.“
Gertjan Brink, der gebürtige Holländer, hat beides clever verknüpft an seinem Abend in der Scheune. Im Advent bereite man sich ja auf die Geburt Jesu vor, sagt er in seiner Begrüßungsrede auf dem Strohpodest. Und auch in seinem Betrieb seien Geburten extrem wichtige Ereignisse. Ohne sie gäbe es keine Milch. Das wissen die Witziner natürlich, bodenständige Leute in Mützen und Schals, unter denen man im Halbdunkel erst nach und nach den Pfarrer und den Bürgermeister identifiziert, ein paar Kirchenvorsteher, die Kindergartenleiterin. Kinder klettern auf hochgeschichteten Strohballen herum und halten sich spielerisch die Leuchtsterne, mit denen die Halle geschmückt ist, vor das Gesicht.
Die Kuh sei scheu, sagt Brink, und geht in eine Ecke, in der Plastikplanen etwas augenscheinlich Großes verdecken. Er greift mit den Händen suchend unter die Plane und hat bald tatsächlich etwas zu packen, das sich bewegt. Er zieht – und langsam werden zwei schwarz-weiß gefleckte Gliedmaßen sichtbar, ein Körper rutscht hinterher, zwei weitere Beine – oder Arme? Dann liegt vor ihm das ganze „Kalb“: ein junger Mann im Kuhkostüm. Er schüttelt sich Stroh vom Kopf, setzt sich auf und lacht. Die Zuschauer lachen auch. Brink aber bittet um Ruhe. Manchmal sei noch ein zweites Kalb im Bauch. Wieder greift er tastend unter die Plane, diesmal kommt eine junge Frau ans Licht – in braunem Fellkostüm. Super Idee, finden die Nachbarn. Das sei ja kaum zu toppen.
„Muss es auch nicht“, betont Kirchenvorsteherin Heidrun Schmidt in ihrer ruhigen und bestimmten Art. Sie hat sich in eine Schlange eingereiht, an deren Ende Brinks Ehefrau Gulaschsuppe ausgibt. Dazu gibt es warme Milch und Kakao. „Wir möchten auf keinen Fall, dass man sich gegenseitig übertrumpft.“ Im Gegenteil, der Adventskalender soll eine gute Stimmung im Dorf schaffen und die Menschen zusammenbringen. Gerade die, die sich seit längerer Zeit aus dem Weg gehen. Sprich: Seit 2011/2012, als ein Streit um 40 000 Hennen das Dorf spaltete. Damals wollte ein ansässiger Landwirt am Dorfrand eine Legehennenanlage errichten. Witzins langjähriger Bürgermeister genehmigte dies, allerdings – so warf ihm der Gemeinderat vor – ohne die Gemeinde an dieser Entscheidung ausreichend zu beteiligen. Der Fall ging vor Gericht, der Bau wurde aufgeschoben, später fortgesetzt. Es folgte ein Bürgerentscheid über den Verbleib des Bürgermeisters: 155 Witziner stimmten mit Ja, 153 mit Nein. Die Wahl im Mai 2014 aber gewann ein jüngerer „Wessi“, Hans Hüller aus Niedersachsen. Er stand vor der Aufgabe, die Scherben zusammenzufegen.
Wie lässt sich das angeknackste Zusammengehörigkeitsgefühl wieder stärken? Das fragte man sich auch in der Kirchengemeinde. Eine Kirchenvorsteherin erzählte begeistert vom „lebendigen Adventskalender“ am Wohnort ihrer Schwester. Klingt schön, meinten die anderen, aber in Witzin mit seinen rund 450 Einwohnern sei eh schon so viel los – es gibt Vereine für Angler, Skater, Jäger, eine Freiwillige Feuerwehr, einen Heimat- und Kulturverein, Tanz- und Musikgruppen. Sogar Alphorn kann man hier spielen. Im Dezember jage eine Weihnachtsfeier die nächste.
Wir probieren es, entschieden sie dann doch, erzählt Heidrun Schmidt, und siehe da: Es war, als hätte das Dorf darauf gewartet. Schon im ersten Jahr gab es genügend Gastgeber, um die Wochentage zu füllen – die Wochenenden sollten frei bleiben – und um die 30 Personen folgten den Einladungen. Und auch im zweiten Jahr hingen die von Heidrun Schmidt gebastelten Sterne mit den Zahlen 1 bis 24 bald verteilt im ganzen Ort an den Fenstern. Diesmal wollten auch Leute mitmachen, die sonst nichts mit Kirche am Hut haben. Zum Beispiel das Ehepaar Remo und Janet Cyprian, beide Mitte 30. „Wir fanden es toll, mit den anderen so zwanglos zusammenzukommen. Sonst nimmt man sich ja kaum die Zeit.“ Ihren Abend bestreiten die Cyprians zusammen mit einer befreundeten Familie. Vor ihrem Einfamilienhaus geht es ausgelassen zu, ein bisschen wie auf dem Weihnachtsmarkt. An der Hofeinfahrt brennt ein Feuer. Im Vorgarten glitzern und blinken Lichterketten in allen Farben, auf einer Außenleinwand laufen weihnachtliche Kurzfilme.
Im Carport stehen die beiden Frauenmit roten Weihnachtsmützen hinter einem langen Tisch und backen Waffeln, an drei Eisen gleichzeitig. In den Teig habe sie hundert Eier gegeben, erzählt Janet Cyprian mit roten Wangen. Man wisse ja vorher nicht, wie viele Leute kommen würden. Ihr Mann steht im Weihnachtsmannkostüm an der Hauswand und gibt zusammen mit seinem Freund den Glühwein aus. Die beiden sind gut gelaunt und schwärmen davon, was die Witziner im Laufe des Jahres so alles auf die Beine stellen: Eisfest, wenn der See zugefroren ist. Plastikenten-Wettschwimmen zu Ostern. Singen unter der Dorflinde im Sommer. Nachtwanderung mit Theatereinlagen im Herbst. Die Witziner lieben es offenbar, Traditionen zu etablieren -ideale Bedingungen für eine Aktion wie den „lebendigen Adventskalender“.
Heidrun Schmidt ist am heutigen Abend auch wieder dabei. Es freut sie, wenn die in der DDR gehauenen Gräben zwischen Christen und Nichtchristen kleiner werden. Aber sie will auch nicht vergessen lassen, „von welcher Seite der Stern im Advent leuchtet“. Die Nummer 24 ist deshalb an der Kirche angebracht – wo sonst? Der spätromanische Feldsteinbau aus dem t3. Jahrhundert steht in der Mitte des Dorfes. Am Glockenturm bewegt sich ein weißer Herrnhuter Stern im Wind. Hier, beim Heiligabendgottes dienst, endet der Witziner Adventskalender. Hier wird es keinen Glühwein geben, keine heiße Suppe. Und doch kann man sicher sein: Sie werden alle kommen, die gemeinsam durch den Advent gezogen sind. Auch die, die sonst nicht an Kirche interessiert sind. Und vielleicht ein bisschen näher beieinandersitzen als in den Jahren zuvor.
Wo sich im Advent die Türen öffnen
Festlich geschmückte Fenster oder Türen mit den Zahlen 1 bis 24zeigen an: Hier treffen sich im Dezember Menschen aus dem Dorf oder Stadtteil zum „lebendigen Adventskalender“. Diese Idee ist mittlerweile in ganz Deutschland und darüber hinaus verbreitet. Nachbarn laden ein zum gemütlichen Beisammensein mit Getränken, Liedern, Andachten oder Vorführungen – wie in Witzin. Die Sanierung der Witziner Dorfkirche wurde durch die KiBa in den Jahren 2015 und 2016gefördert.
Von Hanna Lucassen
Dieser Artikel erschien zuerst im Stifungsrundbrief "KiBa aktuell". Den können Sie auch kostenlos abonnieren, vier Mal im Jahr kommt er dann zu Ihnen ins Haus. Interesse? Dann melden Sie sich im Stiftunsgbüro - per Telefon, Post, oder E-Mail.