Gespräche über die Bordwand
Zu Gast bei der Binnenschifferseelsorge in Hamburg
Seit fast 150 Jahren gibt es die Binnenschifferseelsorge in Hamburg. Heute sind es Ehrenamtliche, die bei Wind und Wetter die Flussschiffer auf ihren Kähnen im Hafengebiet besuchen.
Die Elbe glänzt in der Sonne wie die Wasserfolie in der Augsburger Puppenkiste - ganz so, als habe sich der Strom fein machen wollen für die Fahrt der „Johann Hinrich Wichern“. „Ist alles an Bord?" ruft Schiffsführer Manfred Jahnke, um dessen Hals das weiße Ankerkreuz baumelt, Symbol der Binnenschifferseelsorge. Die Zeit drängt: In einer halben Stunde ist Niedrigwasser, dann kann das Boot nicht mehr ablegen. Ebbe und Flut – danach müssen sich alle Seeleute in Hamburg richten.
Erst noch versammelt sich die Crew um Manfred Jahnke – drei Männer und eine Frau – in der Kajüte, sie sprechen das Vaterunser und hören die Losung des Tages. Jeder streift sich eine Schwimmweste über, dann gehen alle an ihre Position. Nur drei Meter breit und knapp 15 Meter lang ist die „Wichern". Eine blaue Plane über dem Deck dient als Wind- und Regenschutz. Die kleine Barkasse fährt bei jedem Wetter die im Hafen liegenden Elbkähne an. Michael Heinemann steht mittschiffs am Motorblock. Er trägt Blaumann und macht sich am Motor zu schaffen. „Ist ein altes Mädchen", murmelt er. „Damit der Motor Schmierung hat, muss ich den Öldruck vorpumpen.“ Tack, tack, rattatack - die Ventile klopfen, es riecht nach Schiffsdiesel. Mit einem „Tröööt“ aus der altersschwachen Hupe legt das Boot ab. Beim mächtigen Sockel der Elbphilharmonie erreicht es die Norderelbe, fährt an den Landungsbrücken vorbei mit Kurs auf Finkenwerder. Die wichtigste Ladung: Zeit für Gespräche.
Dass die „Wichern" überhaupt fährt, ist ein kleines Wunder. Denn es sind aus schließlich Ehrenamtliche, die die evangelische Binnenschifferseelsorge auf der Elbe über Wasser halten. Neben der Barkasse gehört auch die Flussschifferkirche dazu, das einzige schwimmende Gotteshaus Deutschlands. Das zur Kirche umgebaute Schiff, Baujahr 1906, liegt im Binnenhafen gegenüber der Speicherstadt vor Anker. Auch die Pastorinnen und Pastoren, die hier jeden Sonntagnachmit tag Gottesdienst feiern, arbeiten ehren amtlich. 2007 drohte der traditionsreichen Flussschiffergemeinde das Aus, die Instandhaltungskosten für alte Schiffe sind hoch. Doch Gemeindemitglieder gründeten einen Verein, dem der Kirchenkreis die Schiffe übergab. Seitdem managen die Ehrenamtlichen alles selbst, halten die Barkasse in Gang und bringen ohne Kirchensteuermittel die Kosten von rund 100 000 Euro pro Jahr auf.
Schiffsführer, Festmacher und Seelsorger - drei Posten müssen bei jeder Fahrt besetzt sein. Heute ist als Seelsorgerin die ehemalige Lehrerin Monika-Luise Carstens dabei, als Festmacher Michael Heinemann und als Schiffsführer der 75-jährige Jahnke. Er war einst von der Unternehmensberatung zur Theologie gewechselt und hatte unter anderem in der Krankenhausseelsorge gearbeitet. Als Helfer ist heute noch Klaus-Dieter Walter an Bord. Die Route durchs riesige Hafengebiet wird erst kurz vor dem Start festgelegt. Auf welche Schiffe sie treffen werden, wissen sie vorher nicht. 10 000 Ankünfte von Flussschiffen verzeichnet der Hamburger Hafen jährlich. „Es ist ein bisschen wie in der Krankenhausseelsorge1', meint Jahnke. „In einer Klinik geht man als Seelsorger von Tür zu Tür, man weiß nicht, wer dahinter im Zimmer liegt. Und der Patient bestimmt, ob, was und wie viel besprochen wird. Das ist bei unseren Binnenschiffern ähnlich.“
Während Schiffsführer Jahnke die Barkasse durch den Hafen steuert, packt Monika-Luise Carstens, 70 Jahre alt, in wetterfester Weste und das blonde Haar zum Zopf gebunden, Tüten mit Äpfeln, Schokolade, deutschen, aber auch tschechischen und englischsprachigen Zeitungen -kleine Geschenke für die Binnenschiffer.
Mittlerweile ist die „Wichern" in der Finkenwerder Bucht angekommen, eine Idylle am westlichen Rand des Hafens. Hinter dem grasbewachsenen Deich lugen Dächer hervor, es gibt Landstromanschluss, ein Supermarkt ist nah. Hier sind die Liegeplätze begehrt. Der Mann im roten Arbeitsanzug, der am Heck des ersten Schiffes steht, sieht asiatisch aus. „Hello!", ruft die Seelsorgerin auf Englisch, als die Barkasse längsseits festmacht. Zögerlich kommt der Seemann näher. Die „Wichern" ist blau-weiß gestrichen, das sind auch die Farben der Wasserschutzpolizei. Kein Wunder, dass mancher skeptisch ist. Monika-Luise Carstens stellt sich vor. Er stamme von den Philippinen, berichtet der Schiffer. „Do you have family?" Diese Frage bricht das Eis. Der Mann erzählt lächelnd von Sohn und Tochter in der Heimat. Als die Seelsorgerin ihm die gefüllte Tüte über die Bordwand reicht, fängt er an zu strahlen.
Noch bis in die 1970er Jahre gab es mehrere Tausend selbstständige Binnenschiffer in Deutschland, die „Partikuliere". Oftmals fuhren auf ihren Schiffen Familienangehörige mit. In Hamburg war die Flussschifferkirche ein reger Treff punkt, die Gemeinde war groß. Doch der Beruf veränderte sich. Mittlerweile gibt es weniger als 800 Partikuliere hierzulande. Die Schiffe, die immer größer werden, gehören Reedereien, die Besatzungen wechseln häufig, und Familien fahren schon gar nicht mehr mit. Die Folge: Zeitdruck und Isolation bestimmen heute den Alltag der Binnenschiffer. „Oft sind wirtschaftliche Sorgen das Thema bei unseren Kontakten", sagt Jahnke. Klassische Seelsorgegespräche seien hingegen meist nur bei einem Unglück gefragt. Aber die Schiffer freuen sich über die Besuche. Denn meist sind die Liegeplätze ziemlich ungastlich und abgelegen. So wie der, den die „Wichern" als Nächstes ansteuert.
Die Barkasse ist auf dem Weg ins Hafeninnere. Dorthin, wo kein Touristenboot vorbeikommt. Sie passiert Schleusen und die Köhlbrandbrücke, der Hansaport ist das Ziel. Hier werden Kohle und Erze verladen. Kein Mensch ist an Land zu sehen, nur Kohleberge und die stählernen Röhren der Verladeanlagen. Auch auf dem Binnenschiff steuerbords regt sich nichts.
Dennoch legt die „Wichern" an. „Hallo", ruft Seelsorgerin Carstens. Da erscheint ein Mann im grauen Overall. Vier Mann, antwortet er stockend auf die Frage, wie viele Menschen an Bord seien. „Russia?" Er nickt, nimmt die gereichten Tüten und verschwindet wieder. Auch solche kurzen Kontakte gehören zur Binnenschifferseelsorge. Auf der „Niedersachsen" am nächsten Anleger dagegen steht schon winkend ein junger Mann. Noel Groß kennt das Seelsorgerboot. Sein Schiff, das Kohle über den Mittellandkanal nach Salzgitter transportiert, ist oft in Hamburg. „Wenn die ,Wichern' kommt, spüren wir, dass sich jemand für uns interessiert", sagt der 21-Jährige.
Nach vier Stunden, neun Schiffen und 22 verschenkten Tüten steuert die „Wichern" wieder ihren Liegeplatz neben der Flussschifferkirche an. Die vier Crew-Mitglieder sind erschöpft, aber auch zufrieden. Sie haben in einsame Hafengegenden freundliche Worte und Geschenke gebracht. Etwas, das den Schiffern in Erinnerung bleiben wird.
Seelsorge für Binnenschiffer
Der Hamburger Diakoniegründer Johann Hinrich Wichern hat die Binnenschifferseelsorge vor rund 150 Jahren ins Leben gerufen. Daher ist nicht nur in Hamburg das Kirchenboot nach ihm benannt, sondern auch im größten deutschen Binnenhafen Duisburg und in Mannheim. In Berlin heißt das Seelsorgeboot „Wichern Archenova“.
Von Katrin Wienefeld
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