Das Ende vom Neuanfang
In Osterwieck verfiel die Stadtkirche St. Stephani, bis es fast zu spät war. Dann wurde sie zum Symbol dafür, das ab 1989 zusammenwuchs, was zusammengehört. Nach fast drei Jahrzehnten ist die Sanierung aussen abgeschlossen. Der Kirchenbau ist fix und fertig – und quicklebendig.
„Gott ist gegenwärtig“ ist der Anfang eines 1729 von Gerhard Tersteegen gedichteten, bis heute geschätzten evangelischen Kirchenliedes. Ob hier mehr ein frommes Lebensideal besungen wird oder Theologie in Versen vorliegt, soviel ist jedenfalls klar: An Osterwieck hat der niederrheinische Laienprediger bestimmt nicht gedacht. Dabei könnte der Liedanfang genau so über dem Städtchen am großen Fallstein stehen – und zwar ganz wörtlich gemeint. Es gibt kaum einen Blickwinkel, von dem aus der Flaneur im Stadtkern nicht etwas über Gott lesen könnte: Auf vielen der insgesamt 400 Fachwerkhäuser stehen auf den Fassaden Bibelverse oder erbauliche Sentenzen. Auf Schritt und Tritt begegnen die Spruchbänder, Konfirmanden könnten hier ihren Unterricht mit einer Stadtrally absolvieren, Theologiestudenten Freiluft-Bibelkunde treiben. Das Spruchprogramm mit Sendungsbewusstsein wirkt so organisch im Stadtbild, dass die selbstverständliche Verbindung von Glaube und Wohlfahrt der einstigen Handelsstadt noch heute spürbar ist. Manches Fassadenkleinod in den Häuserzeilen harrt heute eines küssenden Prinzen, um aus dem Dornröschenschlaf geweckt zu werden, doch ist dieses geschlossene Fachwerkensemble insgesamt eines der schönsten in ganz Deutschland. Das Nebeneinander von Holzbearbeitungstechniken aus 500 Jahren ist ein wahres Kompendium für Liebhaber zimmermannsmäßigen Bauens: Der hier vorherrschende niedersächsische Stil weist kunstvolle Schiffskehlen und Flechtbänder auf, aus der Renaissance haben sich komplexe Knoten, Lebensbäume und Runen erhalten. Osterwieck liegt an der „Deutschen Fachwerkstraße“, die zahlreiche Städte mit reichem Fachwerkbestand von der Küste bis zum Bodensee wie Perlen an einer Schnur aufreiht – und ist gewiss nicht als die geringste unter ihnen.
Das Herz des Harzstädtchens jedoch, ihr Zentrum und ihre Landmarke, die Stadtkirche St. Stephani ist ganz und gar aus Stein errichtet. Wäre diese Kirche eine Dame, die Nordwand würde sie wohl kaum als ihre Schokoladenseite ansehen. Dem Kirchplatz und der Straße abgewandt gibt es hier eine Sakristeitür, durch die allenfalls Zachäus der Zöllner erhobenen Hauptes gehen könnte und einen bescheidenen Zugang zum Kirchenschiff. Und doch: Diese Nordwand ist momentan die Freude der Menschen, die sich mit der Kirche verbunden fühlen. Denn ihre Sanierung bedeutet den Abschluss einer fast drei Jahrzehnte währenden Bausanierung, die ein Gemäuer hart an der Grenze zur Ruine in eine Kirche von einnehmender Schönheit verwandelt hat. Und so leuchtet die frisch verputzte Mauer mit den ausgebesserten und sauber ausgefugten Sandsteingewänden selbst an regnerischen Tagen wie von innen heraus, als wolle sie zeigen: „Seht her, selbst ich, das unbeachtete Nordmauerblümchen bin schön!“
„Eigentlich sollte die Nordseite sehr viel früher angepackt werden“, erklärt Planerin Gitta Lüdicke vom betreuenden Büro Planungsring Architekten + Ingenieure aus dem benachbarten Wernigerode, „denn wenn die Schauseite im Süden erst einmal gemacht wäre, so fürchteten wir, wer sollte dann noch Geld geben für eine Außenfassade, die man nicht sieht“, spricht die Baufachfrau aus Erfahrung. Es ging letztlich doch andersherum, weil das Geschäft mit Fördermitteln und Zuschüssen, mit Sanierungsprogrammen und Denkmalsonderfonds mitunter überraschend ist, selbst für Profis: „Unser Büro hat sich da in langen Jahren reingearbeitet, doch man ist nie vor Überraschungen sicher“, weiß Gitta Lüdicke. In diesem Falle eine durchweg positive Überraschung. So präsentiert sich dem Besucher just im Reformationsjahr etwas Wunderbares, das so häufig gar nicht anzutreffen ist in der Welt der Stiftung KiBa: Eine Kirche von Rang, die durchsaniert ist, an der so gut wie alle Sanierungsvorhaben und Bauabschnitte abschlossen sind.
Natürlich: Hier könnte die Turmstube noch besser erschlossen und dort die Rückseite des Altars kunstrestauratorisch behandelt werden, doch es herrscht die Gewissheit, einen Bau zu haben, der durch handwerkliche Meisterleistung für eine kleine Ewigkeit wieder vollkommen in Schuss gebracht wurde. Das macht die Menschen, die die Verantwortung getragen haben bei diesem Marathon und mehr als einmal durch die Mühen der Ebene gelaufen sind, tiefgreifend glücklich: „Es ist schön geworden, das hätte man sich früher gar nicht vorstellen können“, seufzt Rita Krelle-Schmidt vom Gemeindekirchenrat. Sie kennt es anders und auch Jürgen Bielas, der Vorsitzende des Kirchbauvereins. Beide sind Ur-Osterwiecker, die die Geschicke ihrer Kirche mit Empathie begleiten. Kurz vor der Wende stand das Gebäude vor der baupolizeilichen Schließung. Die Gemeinde traf sich in der kleineren Nikolaikirche und benötigte den großen Bau lediglich für die Heiligabendgottesdienste. „Da haben wir uns Jahr für Jahr gefragt, können wir das noch einmal machen?“, erinnert sich Rita Krelle-Schmidt. „Schon als ich hier in den 60er-Jahren in der Kirche konfirmiert wurde, da war sie dunkel und grau“, ergänzt Jürgen Bielas. In späteren Jahren drang im Herbst Laub durch kaputte Fensterscheiben und sammelte sich in den Ecken. Schließlich regnete es durch das Dach. Dann kam das Jahr 1989 und mit ihm die Wende auch für die Kirche – keinen Augenblick zu früh. Das Land Niedersachsen schickte der Gemeinde kurz darauf Dachziegel, um weitere Schäden abzuwenden.
Wenige Monate nach der Öffnung der innerdeutschen Grenze wurde der Kirchbauverein St. Stephani/Osterwieck als einer der allerersten, damals noch als „deutsch-deutscher“ Verein gegründet – beim Vereinsregister in Wolfenbüttel. „Dort gab es Menschen mit Beziehung zu unserer Kirche, aber eben auch mit der unbedingt notwendigen Erfahrung, wie man so etwas anfängt“, erinnert der heutige Vorsitzende der Vereins Jürgen Bielas an die beinahe pionierhaften Anfänge. Die fast 300 Mitglieder und die von ihnen gesammelten Spenden haben wesentlich zur Renovierung der Kirche beigetragen. Und so ist die Kirche für den Verein auch zu einem Denkmal der Wiedervereinigung Deutschlands nach 1989 geworden. Zunächst wurde unter dem gesicherten Dach vier Jahre lang vornehmlich Bestandsaufnahme gemacht, gesichtet und begutachtet. Dann, Zug um Zug, verwandelte sich die Kirche. „Lange hat man kaum was sehen und nur ahnen können, was passiert, es war ja alles mit Planen verhüllt“, erinnert sich Gitta Lüdicke, die im benachbarten Wernigerode aufwuchs und von Osterwieck mit seiner Kirche schon als Kind beeindruckt war. Jetzt lässt sie ihren sachverständigen Blick lächelnd durch den Innenraum schweifen. Doch nicht nur die engagierten Akteure der Instandsetzungszeit, auch heutige Besucher, die den Bau zum ersten Mal sehen, sind von seinem Zauber unmittelbar eingenommen. Die Kirche ist ein Unicum, Generationen haben sie nach ihren Einsichten und Empfindungen gestaltet und so ist sie bis heute gewachsen.
Ältester Teil ist das wuchtige Westwerk, das den Ort wie eine Pinnadel Gottes ins liebliche Tal der Ilse zu heften scheint, und das spätestens seit dem 12. Jahrhundert. Ausgerechnet hier findet sich heute der jüngste Raum. Durch eine schmale Turöffnung betritt man den winzigen „Raum der Stille“ - Kerzenleuchter, ein paar Stühle, drei Ikonen, mehr nicht. Welche Geborgenheit, welche Entspannung für das Auge nach der opulenten Ausstattung des Kirchenschiffs. Wer bei sich sein will, ist hier richtig.
1552, nach Einführung der Reformation, wurde das alte Kirchenmittelschiff abgerissen und in einer Bauzeit von nur fünf Jahren entstand die nun dreischiffige Langhaushalle mit fünf Jochen, die heute noch (oder wieder in alter Pracht) zu bewundern ist. „In Osterwieck sind die Abrechnungen aus der Bauzeit des Kirchenschiffs so gut wie komplett“, berichtet Jürgen Bielas nicht ohne Stolz. Die Kirche verpachtete ihre Liegenschaften und baute mit den Einnahmen. Die Pächter – Bürger der Stadt – errichteten viele der heute bewunderten Häusern mit ihren Gewinnen aus dem Pachtland, auch zum Wohle der Handwerkergilden: Win-win durch „Wirtschaftsföderung“ im ausgehenden Mittelalter. Das Kirchenschiff – noch spätgotisch geprägt – lässt schon den Zugriff der Renaissance durchscheinen. Es ist aus gelbem Sandstein mit lebhaft roten Farbspiel errichtet. Das Material verleiht dem Raum im Zusammenhang mit den virtuos gestalteten Arkaden einen vitalen, fast dynamischen Charakter. Der Bau gilt als einer der frühesten des Protestantismus überhaupt – und als ein Ausrufezeichen der Reformation in Stein gesetzt. Eines das heute in aller Pointiertheit wieder sichtbar ist.
Der Chor, in seiner Bausprache zurückgenommener als das etwas extrovertierte Schiff, wurde noch am Vorabend der Reformation 1516 fertiggestellt, doch auch er, interpretiert man die statisch und damit eben auch repräsentativ wichtigen Schlusssteine im Gewölbe richtig, unter großem Einfluss der Bürgerschaft. Reformation lag hier, so ist zu vermuten, schon früh in der Luft. Und so scheint es bis heute: Im Reformationsjahr steht in der Kirche das monumentale „Osterwiecker Thesentor“, gebaut um heutige Thesen zur Reformation anzupinnen. Davon wird rege Gebrauch gemacht. Die Thesentür ist nur ein – wenn auch besonders eindrucksvolles – Beispiel von der Lebendigkeit der Ortsgemeinde. Und davon, wie sie die einst ungeliebte Kirche St. Stephani wieder ganz ins Herz geschlossen hat. Vor allem durch Konzerte hat die Kirche sich einen Ruf erarbeitet: „Wir haben hier eine wunderbare Kantorei“, schwärmt Rita Krelle-Schmidt – ganz neutral, denn Sängerin ist sie dort nicht. Doch zum Reformationsfest gibt es Musik aus einer anderen Popularitätsliga: Sieben Herrn um Tobias Künzel und Sebastian Krumbiegel, die als „Die Prinzen“ zu einer der erfolgreichsten deutschen Bands überhaupt zählen, eröffnen das Fest. „Die kommen immer wieder mal hierher“, verrät Rita Krelle-Schmidt stolz. „Und dann finden Sie keinen einzigen freien Platz mehr“, ergänzt Jürgen Bielas. Es wird diese Mischung aus besonderem Raum und besonderer Herzenswärme sein, der Popstars hier ihr „Wohnzimmer“ finden lässt.
Der Tourismus soll dem Örtchen eine Perspektive geben, Industrie gibt es hier heute kaum mehr. Zwar liegt die Stadt neben der erwähnten Deutschen-Fachwerkstraße auch an der viel besuchten Straße der Romanik, vor Ort ist indes aus Sicht des Stadtmarketings noch Luft nach oben. Denn es ist ein Unterschied, ob Kulturreisende nur Station machen um zu sehen, was sie interessiert, oder ob kleine Cafés, gepflegte Biergärten und einladende Hotels verlocken, ein paar Stunden, gar Tage hier zu verweilen. Diese Angebote muss man suchen. Doch der Wille ist da, gastfreundlich zu sein und selbstbewußt zu zeigen, was man hat. 20.000 Gäste hat die offene Kirche jährlich, da sollte doch der Funke vom Gotteshaus auf die Stadt überspringen. „Gott ist gegenwärtig“ in Osterwieck – da sollten auch die Menschen gerne verweilen.