St. Johannis Ellrich aus der Vogelperspektive
St. Johannis Ellrich aus der Vogelperspektive Dirk Opitz

Der Traum vom Turm

Das thüringische Ellrich hat eine Kirche mit Schiff und Kirchturm. Klingt unspektakulär, ist es aber nicht: Der Turm von St. Johannis ist ein Neubau, der vom mittelalterlichen Kirchenschiff durch eine schmale Fuge getrennt ist. Und er gehört der politischen Gemeinde. Er ist ein Zeugnis von Willenskraft, Durchhaltevermögen und Kreativität. Besuch beim „Knopffest“ zur Fertigstellung der beiden Turmspitzen.

Es ist der 16. Dezember 2024, 15.36 Uhr: Im Kirchenschiff von St. Johannis in Ellrich bricht Applaus los – laut, begeistert, ja, triumphal. Eben noch hat der Posaunenchor volltönend „Großer Gott, wir loben dich“ gespielt. Dann wird es ganz still. Alle Augen hängen an der Leinwand, die im Chorraum zeigt, was sich 50 Meter über den Köpfen abspielt: Auf einer Gerüstplattform kämpfen Menschen gegen jähe Windböen und eiskalte Regenschauer. Von den äußeren Unbilden unbeeindruckt stecken sie zwei goldene Kugeln auf Metallrohre, die aus dem Gerüstboden ragen. Es ist eine Schar von Dachdeckern, Klempnern, einem Elektriker (wegen des Blitzableiters) und Architekten. Als um kurz nach halb vier die beiden goldenen Turmknöpfe den neuen Doppelturm bekrönen und baulich abschließen, da springt die Freude vom luftigen Arbeitsplatz via Liveübertragung ins Kirchenschiff über. Und jeder, der dabei ist, bekommt eine Ahnung, was das Wort vom „historischen Moment“ meint.

Ellrich ist die nördlichste Stadt Thüringens, wobei „Städtchen“ es wohl besser trifft. Mit der Teilung Deutschlands verlief die Grenze unmittelbar am Stadtgebiet. Hier war einer der wenigen innerdeutschen Eisenbahn-Grenzübergänge, doch viele Ellricher empfanden sich im Sperrgebiet wie in einem abgeschnürten Sack.

Am baumbestandenen Markt der kleinen Stadt liegt die dreischiffige Hallenkirche St. Johannis. Wer ein Beispiel für „ortsbildprägend“ sucht, findet es hier. Die Geschichte des Gotteshauses reicht zurück bis ins Jahr 950. Gegründet von Königin Mathilde, der Gattin Heinrichs I., wurde sie mehrfach durch Stadtbrände und Naturgewalten schwer beschädigt. Jedes Mal aber bauten die Ellricher wieder auf. Im Juni 1907 entzündete ein Blitz den Südwestturm und die gesamte Kirche brannte nieder. Mitte Januar 1908 war der Schaden bereits beseitigt. 50 Jahre später wurde der Bau indes gesperrt und in den 60er Jahren wurden die beiden Turmspitzen abgetragen. In der Zeit der Wiedervereinigung war der Turm vollständig abgerissen und der Bau eine Ruine. Erst nach umfangreichen Sanierungsarbeiten konnte die Kirche 2008 wieder eingeweiht werden – ein Meilenstein, der mit dem Thüringer Denkmalschutzpreis belohnt wurde. Das denkmalgeschützte Gebäude ist nicht nur Gotteshaus, sondern auch ein kulturelles Zentrum. Im Rahmen eines Modellprojekts der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland wurde der Innenraum kreativ umgestaltet: Tischtennis, Lesungen und gemeinsames Kochen stehen sinnbildlich für eine neue Offenheit. 2022 wurde die Kirche als „Möglichkeitsraum“ eingeweiht, der künftig flexibel genutzt werden kann.

Das Raumerlebnis ist beeindruckend: Unverputzte Wände zeigen grobes Natur­steinmauerwerk. Im Kirchenschiff sind meterhohe naturfarbene Raumelemente aus gefaltetem Filz postiert. Sie kaschieren Technik, halten die Akustik im Zaum und bieten in ihrer haptischen Qualität einen originellen Kontrast zur steinernen Bausubstanz. Die Bestuhlung ist modern und schlicht, ebenso die Prinzipal stücke im Chor. Ein hochengagierter Kreis von Ehrenamtlichen hält den Laden am Laufen. So gelungen das Konzept zur Wiederbelebung der Kirche als Herzkammer der Stadt auch erdacht und umgesetzt wurde – ohne Türme blieb die Kirche ein Torso. Stöbert man auf der Website der Stiftung KiBa, so finden sich bei den Projekten allerhand Kirchen mit kleinem Dachreiter oder separatem Glockenstapel – auch Kirchen ohne jeden Turm. Doch eine Stadtkirche, deren Doppelturmwerk auf historischen Postkarten das Weichbild der Stadt so markant prägt, bleibt ohne diesen himmelwärts strebenden Abschluss mangelhaft. Darum blieb den Ellrichern der Traum vom Turm lebendig.

Martin Bischoff ist nicht nur Vorsitzender des Kirchenbauvereins Ellrich, sondern auch Spiritus Rector und Motor der Initiative. Er erinnert an den vom DDR-Regime bewusst herbeigeführten Niedergang der Türme: „Von hier aus konnte man in den Westen sehen und wurde vom Westen aus auch gesehen. Und das wurde ab und zu genutzt, um mit Handtüchern oder anderen Mitteln sich zuzuwinken mit dem Signal: Ich bin hier, ich denke an dich.“ 

Martin Bischoff, Vorsitzender des Kirchenbauvereins, und der Handwerker Jens Großmann befüllen die „Knöpfe“ mit vielfältigen Dokumenten

Martin Bischoff, Vorsitzender des Kirchenbauvereins, und der Handwerker Jens Großmann befüllen die „Knöpfe“ mit vielfältigen Dokumenten (c) Dirk Opitz

Martin Bischoff, Vorsitzender des Kirchenbauvereins, und der Handwerker Jens Großmann befüllen die „Knöpfe“ mit vielfältigen Dokumenten

Martin Bischoff, Vorsitzender des Kirchenbauvereins, und der Handwerker Jens Großmann befüllen die „Knöpfe“ mit vielfältigen Dokumenten (c) Dirk Opitz

Feierlicher Gottesdienst in St. Johannis

Feierlicher Gottesdienst in St. Johannis (c) Dirk Opitz

Ex-Ministerpräsident Bodo Ramelow hat den Turmneubau unterstützt

Ex-Ministerpräsident Bodo Ramelow hat den Turmneubau unterstützt (c) Dirk Opitz

Mittelpunkte des Festes: die beiden Turmkugeln.

Mittelpunkte des Festes: die beiden Turmkugeln. (c) Dirk Opitz

Der „Knopf“ wird auf die Spitze des Turmes gesetzt. Ganz rechts steht der Architekt Peter Tandler.

Der „Knopf“ wird auf die Spitze des Turmes gesetzt. Ganz rechts steht der Architekt Peter Tandler. (c) Dirk Opitz

Der „Knopf“ sitzt!

Der „Knopf“ sitzt! (c) Dirk Opitz

Andreas Schwarze, Superintendent des Kirchenkreises Südharz, Pfarrer Gregor Heimrich und Martin Bischoff (von links) freuen sich über den neuen Turm

Andreas Schwarze, Superintendent des Kirchenkreises Südharz, Pfarrer Gregor Heimrich und Martin Bischoff (von links) freuen sich über den neuen Turm (c) Dirk Opitz

Am 16. Dezember 2024 war der Traum dann endgültig ausgeträumt – in dem erfreulichen Sinne, dass er als Bauwerk Wirklichkeit geworden ist. Wer nach Abbau der Gerüste von den Hängen des Südharzes auf die Silhouette der Stadt herüberblickt, der wird es wohl nicht einmal ahnen können: Hier stehen nicht ein, sondern zwei Gebäude. Die Kirche und Turm trennende Fuge ist nicht nur baulich erforderlich, sondern auch inhaltlich gewollt. Der Turm ist ein kommunales Zentrum, das vielfältige touristische und kulturelle Zwecke erfüllen soll als Begegnungsstätte, Dokumentationszentrum und Galerie. Wenn die Doppelspitze dabei dem verschwundenen Teil der Kirche ähnelt, dann ist das ein Coup derer, die vor dem ersten Spatenstich mit Fördertöpfen und Haushaltsstellen den Weg bahnten. Den Grundstein legten die Ellricher selbst, indem sie 2019 in der „Mach dich ran“-Show des MDR und der KiBa 200.000 Euro für ihren Traum vom Turm erkämpften.

Doch der Erfolg hat viele Väter, der prominenteste unter ihnen ist Bodo Ramelow. Lange vor Beginn des „Knopffestes“ um 14 Uhr ist er in der Kirche. Vier Tage zuvor hat er die Amtsgeschäfte als thüringischer Ministerpräsident an seinen Nachfolger Mario Voigt übergeben. Der Turm in Ellrich aber ist ihm Herzensangelegenheit und zugleich ein politisches Kabinettstück. Auf präsidiales Betreiben hin wurde die Finanzierungslücke zur Umsetzung der Turmpläne mit SED-Vermögen geschlossen. „Diese Türme beweisen, dass das Gerede von der Spaltung der Gesellschaft, was uns dauernd auseinandertreibt, dann überwunden wird, wenn man gemeinsam an etwas arbeitet und an etwas gemeinsam glaubt – nämlich, dass Türme wieder an eine Kirche kommen.“ In einen der Turmknöpfe legt er eine kleine rote Glocke mit der Aufschrift „Bodo“.

Wenn es Augenzwinkern in der Architektur gibt, so ist es hier zu finden: Die Bauhülle besteht aus Waschbetonplatten, die vor Ort zusammengesteckt wurden. Das erinnert an eine gruselige Epoche des Nachkriegsbauens. Doch Architekt Peter Tandler hat die Sache neu gedacht. Er ließ ein Material anfertigen, dessen Oberfläche die Farben der Kirchensteine aufnahm. So entstand etwas Neues, das im Überkommenen fußt: Die Proportionen und Öffnungen sind wie einst. Zwischen den beiden Türmen aber tut sich eine durchgängige Lichtfuge auf, die Schallluken, hinter denen die erhaltenen Glocken ihren Dienst versehen werden, sind aus Glas, der Turm ist schmucklos und lebt von der Struktur und Farbe seiner Oberflächen, die die alte Kirche aufnehmen und weiterinterpretieren. Das Innere wird über einen Aufzug barrierefrei erschlossen, neue Räume harren der Ideen zukünftiger Nutzer.

Stolz schwingt mit beim Knopffest in Ellrich, der Turm steht in der veranschlagten Zeit und mit den geplanten Mitteln. Für Architekt Peter Tandler ist es aber mehr: „Demut und Ehrfurcht vor der Geschichte und große Freude der Mitwirkung und Unterstützung dieses Projektes sind die Emotionen, die für uns hier am heutigen Tage zusammenkommen.“ Eine Bürgerbewegung hat den Traum zum Werk werden lassen, jetzt sind die Knöpfe drauf, quasi als goldener Doppelpunkt. Er schließt die eine Erfolgsgeschichte ab und öffnet ein neues Kapitel für Ellrich. Das muss noch geschrieben werden.

Von Thomas Rheindorf