Ein Glücksfall für die Musik
Anne-Sophie Mutter spielt dort, wo im Lockdown noch gespielt werden darf: im Gottesdienst
Sie ist eine Ausnahmeerscheinung, ihre Karriere so einzigartig wie ihre Begabung für das Spiel der Violine. Jetzt nutzt die 57-jährige Stargeigerin Anne-Sophie Mutter ihr Renommee, um auf die Not der Musikbranche aufmerksam zu machen.
Anne-Sophie Mutter sorgt sich: nicht um eigenes Ansehen oder Auskommen, sondern um ihr künstlerisches Heimatland, die Klassikszene. Diese erlebte wie wenige Branchen sonst ein schwarzes Jahr: Musik dieses Genres stellt allermeist ein konzertiertes Miteinander dar, das auf subtiler Kommunikation beruht. Auf Abstand fehlt jene Intimität, die den Gleichklang der Vielen so faszinierend macht. Da liegt auf der Hand, dass „keine Konzerte“ gleichbedeutend ist mit einer Krise, die Existenzen bedroht. Das Schweigen der Musiker ist zugleich die Krise einer darbenden Gesellschaft: „Musik ist ein Refugium“, weiß die Stargeigerin, „eine Quelle der Kraft, des Trostes sowie leuchtender Hoffnung und tiefer Gemeinschaftserlebnisse.“
Schon ihre Formulierungen lassen erkennen: Kunstgenuss und religiöses Empfinden liegen eng beieinander. So nutzt die Grande Dame ihre inspirierende Dynamik, um in Gottesdiensten einerseits der Erbauung der Gläubigen aufzuhelfen, andererseits um auf die Not vor allem der freiberuflich tätigen Musiker aufmerksam zu machen. Die heute 57-Jährige spielt Geige, seit sie fünf Jahre alt war. Ihr Auftritt 1977 als Dreizehnjährige mit Herbert von Karajan in Salzburg ist Legende. Sie ist mit Preisen und Ehrungen überschüttet worden, rund um den Globus sorgen die Konzerte der wohl berühmtesten Geigerin der Welt für Aufsehen. Dabei fehlt ihrem Spiel jede Spur von Entertainment: Eine grazile Frau steht in bodenlanger Robe als Solistin zwischen Orchester und Publikum. Und ganz gleich, ob man frühe Aufnahmen ansieht oder aktuelle: Wenn sie den Bogen an ihre „Emiliani“ oder die „Lord Dunn-Raven“ – so heißen ihre beiden Stradivari-Violinen – legt, dann vollzieht sich eine in Haltung und Gesichtsausdruck ablesbare Vereinigung von Mensch und Instrument, die keine Außenwelt mehr zu kennen scheint. Das Publikum hört und sieht Kunst in der Verwirklichung ihrer selbst. In diesem Akt ist kein Platz für Heischen nach Bewunderung. Vielleicht ist es diese selbstvergessene Hingabe, die den Unterschied macht zum Heer der hervorragenden Virtuosen. Zumal ihr Lampenfieber – selbst als jungem Mädchen – nie begegnet ist.
Anne-Sophie Mutter hat ihr Ausnahmetalent mit der lebenspraktischen Mentalität ihrer Heimat, des Schwarzwalds, angenommen: „Ich sehe mich als einzigen großen Glücksfall“, bekannte sie schon ganz zu Beginn ihrer Karriere. Für sich selber hat sie ausgesorgt. Doch den Nachwuchs und alles, was mit der Musik zusammenhängt, will sie jetzt erhalten und verteidigen. Sie war selbst mit dem Corona-Virus infiziert, hat sich intensiv mit der Pandemie und ihren Auswirkungen auseinandergesetzt. Darum geht die Protestantin in Kirchen, solange die Konzerthäuser geschlossen sind. Hier spielt sie im Gottesdienst mit und fordert zugleich ziemlich unverhohlen zum Spenden für die Interpreten klassischer Musik auf. Ein Zwiespalt? Nicht für die engagierte Fürsprecherin der Klangkunst: „Für mich ist jede Musik wie ein Gottesdienst.“
Thomas Rheindorf
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