Neues Leben in alter Kirche
Von Hanna Lucassen
Eine Sache will Stefanie Sonnenburg nicht in den Kopf: „Es gibt immer noch Leute, die denken, wir seien keine Gemeindekirche mehr.“ Die Pfarrerin der Hannoveraner Christuskirche schüttelt verwundert den Kopf. „Der Chor ist mit eingezogen, ja, aber wir sind auch noch da!“ Jeder habe seinen Bereich, wie in einer Wohngemeinschaft etwa. „Zwei in einer Kirche – es scheint, als wären wir damit ein echter Prototyp.“
Eine Doppelnutzung wie die in Hannover ist in der Tat nicht so häufig. Zu groß geworden für die schrumpfende Gemeinde, wurde die Christuskirche 2014 spektakulär zu einem Chorzentrum umgebaut. Im Inneren entstanden mehrere Probenräume für den renommierten Mädchenchor Hannover. Außen blieb alles beim Alten. Der imposante neugotische Backsteinbau steht auf einem großen freien Platz in der Hannoveraner Nordstadt, einst Arbeiterviertel, heute eher szenig-hip. Erbaut 1859 bis 1864, im Zweiten Weltkrieg zerstört, danach wieder aufgebaut. Ein hoher Glockenturm über dem Kirchenschiff, viele Ziergiebel, eine filigrane Fensterrosette leuchtet über dem imposanten Hauptportal.
Davor spielen heute ein paar Mädchen in bunten Steppjacken Fangen. Andere stehen zusammen und zeigen sich Videoclips auf dem Smartphone. Dann geht die Kirchentür auf, eine blonde Frau ruft raus: „Es geht weiter!“ Die massive Holztür ist nur mit einem Zahlencode zu öffnen. Daneben hängt ein Messingschild: „Mädchenchor Hannover“. Die Mädchen gehen langsam hinein.
Von Kirchengemeinde steht hier nichts. Wo ist sie denn? Pfarrerin Sonnenburg, eine schlanke Frau mit Ponyfrisur und klarem Blick, zeigt auf einen Seiteneingang. Nicht ganz so mächtig wie das Hauptportal, aber immer noch größer als in den meisten Kirchen. Daneben ein Schaukasten mit den Neuigkeiten aus der Gemeinde. „Hier geht es rein!“ So betritt man den hohen, lichtdurch fluteten Kirchenraum vom linken Seitenschiff aus. Der Blick geht unwillkürlich nach oben, ins weiß getünchte Gewölbe mit ziegelroten Rippen und Sternen aus Messing. Der Altarraum atmet die alte Zeit: Der hohe Holzaltar, die dunkle Kanzel, das schwere Taufbecken stammen noch aus der Vorkriegszeit, hier wurde 2014 nicht viel verändert.
Im Mittelschiff dafür umso mehr: In dem ehemals langen, ebenerdigen Raum mit den roten Säulen erhebt sich nun eine Tribüne. Schwarze Stuhlreihen stehen auf hellen, schlicht eleganten Holzstufen, die bis zur Orgelempore hochführen. 400 Menschen haben hier Platz. Die Gemeinde vermietet den Raum – wenn sie nicht selbst Gottesdienst feiert – für Theateraufführungen, Konzerte und andere Veranstaltungen. Die Besucher in den ersten drei Reihen sitzen dann auf Kirchenbänken aus schwarz lackiertem Holz. „Der Architekt fand das nicht so passend, aber die alten Bänke gehören zu unserer Geschichte, das musste sein“, erklärt die Pfarrerin.
Christuskirche Hannover: Neues Leben in alter Kirche (c) Ann-Kristin Bauer
Christuskirche Hannover: Neues Leben in alter Kirche (c) Ann-Kristin Bauer
Christuskirche Hannover: Neues Leben in alter Kirche (c) Ann-Kristin Bauer
Christuskirche Hannover: Neues Leben in alter Kirche (c) Ann-Kristin Bauer
Christuskirche Hannover: Neues Leben in alter Kirche (c) Ann-Kristin Bauer
Christuskirche Hannover: Neues Leben in alter Kirche (c) Ann-Kristin Bauer
Christuskirche Hannover: Neues Leben in alter Kirche (c) Ann-Kristin Bauer
Christuskirche Hannover: Neues Leben in alter Kirche (c) Ann-Kristin Bauer
Christuskirche Hannover: Neues Leben in alter Kirche (c) Ann-Kristin Bauer
Während Sonnenburg erzählt, hört man hinter der Tribüne ein paar gedämpfte Geräusche. Schritte, Türen, hier und da ein hohes Trällern. Die nächste Probe steht an, diesmal ist es der Konzertchor. Die jüngeren Mädchen von heute Morgen sind schon gegangen. Jetzt nehmen Mädchen und junge Frauen Platz in dem Raum, der unter der Tribüne entstanden ist. Von beiden Seiten kann man durch Glaswände hineinschauen: schwarze Stuhlreihen und heller Holzboden auch hier, Holzlamellen an der ansteigenden Decke, Mikrofone, die von der Decke hängen, ein Flügel.
Unter den Sängerinnen ist auch die achtzehnjährige Sophie, Streifenpulli, offenes Gesicht, Pferdeschwanz. Sie kommt aus einer unmusikalischen Familie, sagt sie, und sei hier über eine Freundin reingerutscht, das war noch in der Grundschule. Mittlerweile singt sie im Konzertchor. Mittwochs und samstags drei Stunden Probe, Auftritte, Übungsfreizeiten, Konzertreisen. „Andere machen Leistungssport, wir gehen in den Chor“, sagt Sophie lachend. Ihre beiden Sitznachbarinnen nicken wissend. Für die fünfzehnjährige Karline ist das Singen ihre Leidenschaft, sie will das vielleicht auch mal beruflich machen. Die Medizinstudentin Rosa ist mit 22 Jahren die Älteste im Chor. Sie könne nicht so richtig aufhören, sagt sie. „Man findet nichts Besseres.“
Der Mädchenchor Hannover ist nicht irgendein Chor. 1952 gegründet, ist er heute weltweit einer der führenden Mädchen-Ensembles, gewinnt internationale Preise, macht Radioaufnahmen. Anders als bei vergleichbaren Knabenchören wie den Thomanern leben die Sängerinnen zu Hause, gehen in ihre eigenen Schulen, treffen sich aber eben häufig zu den Proben. Die fanden bis 2014 in einem Gymnasium statt. „Nach dem Singen mussten wir immer die Stühle wieder umstellen“, erinnert sich Sophie. In der Christuskirche ist das anders. Neben dem großen Probenraum unter der Tribüne gibt es noch vier weitere Übungsräume im Glockenturm. „Der Chor ist für uns wie eine zweite Familie. Und hier ist unser Zuhause.“
„Die räumlichen Bedingungen sind hier ideal“, sagt Andreas Felber, der 2019 die Nachfolge der langjährigen Chorleiterin Gudrun Schröfel übernahm. Der Probenraum habe einen „trockenen“, analytischen Klang. Man höre jeden Fehler und könne toll an den Stimmen arbeiten. Bei Bedarf aber können die Stimmen auch weicher und voller klingen, indem der Chor den Hall der hohen Kirche nutzt. Denn die Seitenwände bestehen aus Glaslamellen, die sich per Knopfdruck öffnen lassen. Dann verändert sich sofort die Akustik. Jetzt, als die Probe beginnt, sind die Lamellen natürlich geschlossen. Die Stimmen der etwa 70 Mädchen klingen dennoch beeindruckend: laut, kräftig, fröhlich, sanft, melancholisch, je nachdem, was Felber vorgibt.
Chor und Gemeinde – eine Erfolgsgeschichte? Hans-Peter Braun meint Ja. Er leitet den Kirchbauverein der Christuskirche, der den Umbau finanziell durch Spenden unterstützt hat. Er ist überzeugt: „Ohne diese Lösung mit dem Chor hätten wir die Kirche nicht halten können.“ Natürlich müsse man Kompromisse machen und sich immer wieder absprechen. Proben und Gottesdienste etwa können nicht gleichzeitig stattfinden. Am Anfang sei es eine reine Zweckgemeinschaft gewesen. „Mit der Zeit aber ist das Vertrauen gewachsen, wir nähern uns an“, sagt Braun. Der Posaunenchor übe jetzt auch in den Probenräumen des Chors, und die Mädchen geben zunehmend Konzerte in der Kirche. „Ich freue mich, dass wieder so viel Leben in diesem Haus ist. Was gibt es Schöneres für eine Kirche, als wenn junge Menschen sie mit ihrem Gesang füllen?“
Am nächsten Morgen ist Gottesdienst. Sonntag, 11 Uhr, familienverträgliche Zeit. Die etwa 40 Gottesdienstbesucher sitzen im Altarraum. Die Tribüne bleibt leer. Es ist recht kühl. Viele sitzen in Winterjacken, eine Frau zieht sich die Kapuze über den Kopf. Der Pfarrer, ein Kollege von Stefanie Sonnenburg, predigt über die Schwierigkeit, sich nicht verführen zu lassen. Er bindet geschickt aktuelle Ereignisse ein und geht auf den Krieg in der Ukraine ein, der viele beschäftigt. Die Menschen sitzen nah beieinander und hören zu. Bei den Liedern singen alle mit. Nicht mit der gleichen Kraft wie der Mädchenchor bei der gestrigen Probe, natürlich nicht. Aber dennoch mit Gefühl. Und die Akustik des hohen Kirchenraumes, die ist ja auch dieselbe.
Diese Reportage ist im Stiftungsrundbrief „KiBa Aktuell“ 1/2023 erschienen.
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KiBa Aktuell 1/2023
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