Orte der Demokratie
Die Rettung ostdeutscher Dorfkirchen
Eine alte Regel aus dem US-amerikanischen Journalismus lautet: »If you don’t go - you don’t know.« Aktuelle Ost-West-Debatten bringen mich auf die Frage, ob das nicht auch ein sinnvolles Motto für alle Bürgerinnen und Bürger in Deutschland wäre: Wenn du als Westdeutscher nie in den Osten oder als Ostdeutsche nie in den Westen fährst, hast du keine Ahnung - und solltest dich mit lautstarken Meinungsäußerungen zurückhalten. Leider belegen statistische Erhebungen regelmäßig, dass der innerdeutsche Regionalverkehr seit Jahren schwächelt - von wegen »Reiseweltmeister«.
Zu den Vorzügen meiner Arbeit gehört, dass sie mich häufig in die neuen Bundesländer führt. Nicht nur in die blühenden Stadtlandschaften von Leipzig, Halle oder Erfurt, sondern auch aufs Land. Nicht, dass mich dies zu einem »Experten« (was für ein hässliches Wort!) machte. Aber bei meinen Besuchen in ostdeutschen Dorfkirchen sammle ich Erfahrungen, die mir lange nachgehen. Ich will jetzt keinen einzelnen Ort hervorheben, weil vieles so typisch ist.
Da ist also eine Kirche mitten im Dorf. Die DDR-Zeit hat sie gerade eben überstanden. Hätte die Friedliche Revolution ein paar Jahre später stattgefunden, wäre sie verloren gewesen. Gott sei Dank ist die Mauer noch rechtzeitig gefallen. So konnten die Menschen im Dorf sich daranmachen, den baulichen Mittelpunkt ihres Gemeinwesens zu retten. Da die Kirchengemeinde unter dem atheistischen Zwang kleiner geworden war, konnte sie dies nicht allein leisten. Ein Verein gründete sich, der die unterschiedlichsten Menschen - Christen und andere Menschen guten Willens - zusammenbrachte. Mit eigener Hände Arbeit, Spenden aus dem Dorf sowie mit Unterstützung von Stiftungen und staatlichen Stellen - also auch mit erheblicher Hilfe aus dem Westen - gelangen ungezählte Kirchenrettungen. »Allerdings«, so sagte es mir einmal ein kirchlicher Bauamtsleiter, »hören wir im Osten bei der Sanierung auf, wo ihr im Westen anfangt«. Dennoch, man kann hier von einem Wiedervereinigungswunder sprechen. Für manche der Retterinnen und Retter war dies übrigens eine Chance, den Brüchen der eigenen Biografie etwas Heilendes entgegenzusetzen.
Die Rettung ostdeutscher Dorfkirchen hat auch eine große politische Bedeutung. Viele Mitglieder der evangelischen Kirche waren ja nicht nur an der Überwindung der Diktatur beteiligt, sondern auch am Aufbau einer humaneren Gesellschaft. Rainer Eppelmann hat die Kirche »eine Schule der Demokratie« genannt. In vielen östlichen Dörfern kann man sehen, was das konkret heißt. Nicht wenige der Engagierten gehören zu denen, die sich für die Demokratie einsetzen: in Parteien, als Abgeordnete oder Bürgermeister, in Verbänden, der Verwaltung oder eben in ihrem Dorfkirchenverein.
Zu Gast in St. Walpurgis Großengottern (Thüringen) im Rahmen der Mitgliederversammlung 2023 des KiBa-Fördervereins
Zu Gast in St. Walpurgis Großengottern (Thüringen) im Rahmen der Mitgliederversammlung 2023 des KiBa-Fördervereins
Zu Gast in St. Walpurgis Großengottern (Thüringen) im Rahmen der Mitgliederversammlung 2023 des KiBa-Fördervereins
Zu Gast in St. Walpurgis Großengottern (Thüringen) im Rahmen der Mitgliederversammlung 2023 des KiBa-Fördervereins
Zu Gast in St. Ägidii Kleinballhausen (Thüringen) im Rahmen der Mitgliederversammlung 2023 des KiBa-Fördervereins
Zu Gast in St. Ägidii Kleinballhausen (Thüringen) im Rahmen der Mitgliederversammlung 2023 des KiBa-Fördervereins
Zu Gast in St. Ägidii Kleinballhausen (Thüringen) im Rahmen der Mitgliederversammlung 2023 des KiBa-Fördervereins
Zu Gast in St. Ägidii Kleinballhausen (Thüringen) im Rahmen der Mitgliederversammlung 2023 des KiBa-Fördervereins
Wer heute eine östliche Dorfkirche besucht, dem begegnet häufig eine Gastfreundschaft, in der eine berechtigte Prise Stolz gemischt ist. Man hört aber auch von Zukunftssorgen. Wenn die Generation der Kirchenretter abtritt, wer folgt nach? Wer füllt die sanierten Bauten mit Leben? Beängstigend ist für viele das Erstarken des Rechtspopulismus. Es gibt im Wahlverhalten krasse Gegensätze zwischen den städtischen und ländlichen Regionen. Bei einigen, aber längst nicht bei allen, gebe es radikale, menschenfeindliche Einstellungen. Bei vielen anderen aber äußere sich eine tiefe Unzufriedenheit - zum Teil berechtigt, zum Teil irrational. Das Meckern habe ja eine lange Tradition, als die andere Seite der Obrigkeitshörigkeit. Destruktiv werde es, wenn es demokratische Institutionen grundsätzlich infrage stelle. Oft sei es auch ein Zeichen für Faulheit, denn wer meckert, muss nichts tun. Auch deshalb sind die Dorfkirchen in den neuen Bundesländern heute so wichtig.
Denn sie bilden ein Gegenmodell zu populistischem Antidemokratismus. Sie sind unersetzliche Orte des Engagements und Schulen der Demokratie. Wer diesen Sommer also dazu nutzt, die Schönheiten Ostdeutschlands zu genießen, sollte unbedingt bei einer der vielen Dorfkirchen anhalten und mit den Menschen sprechen, die sich für sie einsetzen: »If you would go - you would know«.
Johann Hinrich Claussen ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland und Mitglied im Vorstand der Stiftung KiBa. Sein Artikel "Orte der Demokratie" ist in „Politik und Kultur“, der Zeitung des Deutschen Kulturrats, erschienen.