Weihnachten ganz anders
Albert Einstein, Albert Schweitzer, König Melchior und ein „Wutbürger“ auf dem Weg nach Bethlehem: In der „Langen Nacht der Krippenspiele“ präsentieren junge Schauspieler alljährlich ungewöhnliche Versionen der Weihnachtsgeschichte. Das Publikum und eine Jury wählen am Ende ihre Favoriten.
Auf der provisorischen Bühne stehen Albert Schweitzer, Albert Einstein, König Melchior und ein „normaler“ Dresdener Wutbürger. Ein schwarzer Bühnenhintergrund versperrt den Blick auf den Altar in der MartinLutherKirche in Dresden. Auch über das Taufbecken ist ein Stück schwarzer Stoff geworfen. Ungewöhnlich sind die Hauptpersonen im Krippenspiel der Jungen Gemeinde aus Weistropp – eine „Gurkentruppe“, so der Titel des Stücks, das der Weistropper Pfarrer Christian Bernhardt verfasst hat. Noch ungewöhnlicher ist das Thema, über das sie sich unterhalten: Auf dem Zifferblatt der Weistropper Kirche, das jahrzehntelang am Kirchturm hing, hat eine Stunde 61 Minuten. Jetzt liegt ein solches fehlerhaftes Zifferblatt auf der Dresdener Bühne. Was können wir anstellen mit der zusätzlichen Minute, fragen sich die vier Protagonisten, während sie sich gemeinsam auf die Reise nach Bethlehem machen.
Doch die vier denken in ganz verschiedene Richtungen. Albert Einstein philosophiert über die Relativität der Zeit, König Melchior, der sich für sehr wichtig hält, will nur seinen Stern wiederfinden, der Wutbürger sieht überall Verschwörer am Werk. Keiner hört dem anderen wirklich zu. Schließlich sind sie so zerstritten, dass zwei Engel eingreifen und sie zurechtweisen. So finden sie am Ende doch noch gemeinsam zur Krippe – und nutzen die geschenkte Minute, um in Bethlehem vor dem Jesuskind eine Kerze zu entzünden.
Die jungen Krippenspieler aus Weistropp sind nach Dresden gekommen, um sich mit anderen Laientheatergruppen zu messen. In der 10. „Langen Nacht der Krippenspiele“ zeigen insgesamt 80 Kinder und Jugendliche, wie vielfältig Theaterstücke zu Heiligabend sein können. Jedes Jahr im Januar lädt das Evangelische Landesjugendpfarramt Sachsen zu einem solchen „Krippival“ ein. Die beiden Theaterpädagogen aus dem Referat für Spiel und Theaterpädagogik im Landesjugendpfarramt sprechen nach jeder Vorführung mit der Theatergruppe über das Stück und die Leistung der Krippenspieler. Die rund 200 Zuschauer – überwiegend Jugendliche, aber auch viele Mitarbeiter aus der Jugendarbeit, die Anregungen und neue Ideen suchen – diskutieren engagiert mit.
Viel Diskussionsstoff bietet das Stück „Brennpunkt“ der Bannewitzer Jungen Gemeinde: Josef und Maria leben in einem besetzten Land, Hubschrauber dröhnen am Himmel. Eine Psychotherapeutin hat Maria eine „posttraumatische Schizophrenie“ bescheinigt; im Krisengebiet sei eine Psychose samt Engelserscheinung normal. Josef ist dabei, eine Bombe zu bauen. „Die fremden Siedler grinsen angesichts unseres Elends. Da kannst du nur noch den Zünder ziehen“, sagt er. Sein Sohn soll ohne Ausgangssperre und Bulldozer aufwachsen. Dafür will er „ein Zeichen setzen, es den Besatzern hundertfach heimzahlen, mit einem großen Knall.“ Maria hält dagegen: Nicht Eiferer werden die Welt retten. Ihr Sohn wird ohne Gewalt herrschen. Im Fernsehen läuft ein „Brennpunkt“ über die Krise im Nahen Osten.
Würde Josef heute so auf die Besatzungssituation in Palästina reagieren? Würde Maria nach der Ankündigung ihrer Schwangerschaft durch einen Engel eine Therapeutin aufsuchen? Mit solchen Fragen hat die Junge Gemeinde Bannewitz ihre Gemeinde an Heiligabend konfrontiert und keine Antworten vorgegeben. In der letzten Szene des Spiels steckt Josef schließlich eine Kerze an. Er legt seine Bombe in einen Koffer. Alle Schauspieler entzünden Kerzen am Licht, das Josef in der Hand hält. In der Kirche kommt Weihnachtsstimmung auf.
Krippenspiel-Festival seit zehn Jahren
„Es ist nicht einfach, ein Stück zu machen, in dem die Figuren der Weihnachtsgeschichte so ganz anders vorkommen“, sagt Frank Hohl, einer der beiden Theaterpädagogen aus dem Dresdener Landesjugendpfarramt. Manche Gruppe, die zu sehr von den gewohnten Bildern abweiche, bekomme direkt nach Weihnachten Briefe mit Kritik. Die Jugendlichen aus Bannewitz haben Mut bewiesen bei der Auswahl des Stücks, findet er. Das Krippenspiel-Festival, das es bisher in dieser Form nur in Sachsen gibt, wurde vor zehn Jahren ins Leben gerufen, um junge Krippenspieler zu motivieren, den Austausch über ungewöhnliche Stücke anzuregen und neue Ideen zu vermitteln. Eine Jury bewertet die Stücke, vor allem danach, wo sie das größte Entwicklungspotenzial erkennt. Am Ende erhält die Gruppe aus Bannewitz den Jurypreis. Den Publikums preis gewinnen die Weistropper mit der „Gurkentruppe“. Alle Gewinner werden zu einem zweitägigen Theaterworkshop des Jugendpfarramtes eingeladen.
Die jüngste Theatergruppe „Rebesgrün“ kommt aus dem Vogtland. In ihrem Spiel sitzt Marias Schwangerschaftsbauch über dem Bauchnabel, die Soldaten tragen Kostüme aus dem Faschingsfundus, ein Weiser aus dem Morgenland tritt in Turnschuhen auf. Die Geschichte ist humorig und schnell erzählt: Hirten sollen vor dem Hauptmann mit dem kaputten Bein niederknien. Sie weigern sich, weil sie nur vor Gottes Sohn knien wollen. Doch am Schluss erkennen alle im Jesuskind den Retter der Welt, der auch das Bein des Hauptmanns gesund macht. Dazu pfeift der Popsong „Wind of Change“ durch die Kirche. Die Weihnachtsgeschichte als wunderbare Komödie.
Neue Interpretation des altbekannten Stoffes
Was macht ein Theaterstück zum Krippenspiel? Ab wie vielen Engeln taugt es für Heiligabend? Welchen Anteil der Die einzelnen Vorführungen werden in der „Langen Nacht der Krippenspiele“ intensiv diskutiert (oben). Am Ende steht auf der Bühne der Dresdener Martin-Luther-Kirche die Siegerehrung an Spielzeit müssen Maria und Josef haben? Natürlich muss ein Zusammenhang mit der Weihnachtsgeschichte bestehen, sagt Frank Hohl. Aber in Genre, Stil und Ort der Handlung gebe es viel Freiheit: „Es geht immer um eine neue Interpretation des altbekannten Stoffes.“ Hohls Kollege Lars Gustav Schwenzer ergänzt: Ein Krippenspiel soll vor allem die Botschaft „Gott liebt die Menschen“ vermitteln. „Dazu benötigt man nicht unbedingt ein Jesuskind in der Krippe auf der Bühne. Und Josef kann auch eine Frau sein, wenn ein Mädchen die Rolle spielt.“ Hauptsache, die Zuschauer werden animiert, darüber nachzudenken, was es bedeutet, dass Gott Mensch geworden ist.
Ungewöhnliche Ideen können helfen, diese Botschaft alle Jahre wieder neu zu vermitteln. So wie bei der Jugendgruppe aus dem Thüringer Wald. Da bricht der Engel durch eine Pergamentwand. Mit Josef zecht er die Nacht hindurch; der hat sich gerade von Maria getrennt, weil sie von einem anderen schwanger ist. „Hab Vertrauen! Maria ist dir treu“, redet der Engel auf Josef ein. Der bleibt skeptisch: „Dann ist das Kind vom Himmel gefallen?“
Das letzte Stück auf der Bühne heißt „Ausverkauf“. Jugendliche aus Dresden-Löbtau haben sich den Konsumrausch im Advent vorgenommen. Das Stück spielt in einem Supermarkt, die Verkäuferinnen machen keine Volkszählung, aber Inventur. Durch den Mittelgang der Kirche kommen der Punker Jo und die brave Mia auf die Bühne. Sie brauchen Windeln für Baby Jessie. Ein Mann namens Melchi erscheint sturzbesoffen – „spirituelle Getränke“ seien schuld – und schenkt dem Neugeborenen eine Möhre. Auch Balthasar tritt auf und spendet eine wärmende, goldene Rettungsdecke. Der Filialleiter, Herr Kaspari, gibt ein Räuchermännchen dazu.
Schon im Juni haben sie mit der Ideensuche begonnen, erzählen die Löbtauer. Jeder hat eine Kurzbiografie zu seiner Figur geschrieben. Seit Oktober wurde geprobt, an zwei Probenwochenenden sogar bis 3 Uhr nachts. „Das ist schon anstrengend“, sagt einer aus der Schauspieltruppe. „Aber wir werden belohnt, wenn wir das Ergebnis sehen und die positiven Rückmeldungen vom Publikum kommen.“
Manon Priebe
Die 11. „Lange Nacht der Krippenspiele“ findet am 6. Januar 2018 in der Paul-Gerhardt-Kirche in Leipzig-Connewitz statt.