Kalbensteinberg
Kalbensteinberg

Kalb: Kirsche und Kirche

Eine Reise nach Franken

Die drei „K“ bestimmen die Identität des fränkischen Pfarrdorfs Kalbensteinberg, dessen rund 300 Einwohner sich meist mit der Kurzform „Kalb“ begnügt. Das Gotteshaus im Ort ist so staunenswert wie der Einsatz der kleinen Gemeinde für ihre Kirche. Und auch ihr Stolz über das Erreichte. Ein Besuch bei Menschen, mit denen für Gäste gut Kirschen essen ist.

Leuchtend rot und prall hängen sie dicht an dicht in den Bäumen und werden sanft vom Wind bewegt. In der Sonne blitzen sie zwischen dunkelgrünem Blattwerk als helle Lichtpunkte. Wer die Sinnlichkeit von prunus avium juliana erfahren möchte, der muss nach Kalbensteinberg reisen. Der Ort liegt zwar im Spalter Hopfenanbaugebiet, im Herzen des fränkischen Seenlands, nennt sich aber selbst „Das Kirschendorf“. Zu Recht, denn hier lebt man mit und für die schöne Frucht aus der Familie der Rosengewächse, die das Dorf in großzügigen Plantagengärten umgeben. Kalbensteinberg kennt keine Straßennamen. Wozu auch, hier kennt jeder jeden und beinahe jedes Haus und Flurstück lässt sich bis ins Mittelalter zurückverfolgen. Bodenständigkeit und Beständigkeit zeichnen die Region aus. Die Menschen sind zufrieden und bleiben gerne, wo sie aufgewachsen sind. Abwanderung? Landflucht? Überalterung? Das mag anderswo ein Thema sein. Die Dörfer der Umgebung sind noch fast sortenrein evangelisch oder katholisch, es ist ein richtiges Miniaturwunderland für Konfessionsforscher.

Das (bis auf drei katholische Christenmenschen) evangelische Kalbensteinberg liegt abseits aller Verkehrsrouten ganz für sich in der hügeligen Landschaft. Und doch hat das Dörfchen einen besonderen Ruf – und das nicht nur wegen der Kirschen. Der andere Grund ist die Kirche, die nach ihrem Patrozinium offiziell etwas langatmig „St. Marien und Christophorus“ heißt und allgemein Rieterkirche genannt wird. Das bedarf indes einer Erklärung. Und die liefert niemand unterhaltsamer als Erika Schäfer. In hunderten Führungen hat sie Abertausenden von Menschen den einmaligen Kirchbau erschlossen. Über ein Jahrzehnt hinweg hat die 71Jährige den großen Gang der Geschichte in kleine anschauliche Geschichten zerlegt, die sich um und in der Kirche abspielten, während ihr Mann den Ansturm der Wissensdurstigen im Hintergrund managte. Nun hat sich das Ehepaar zurückgezogen, doch für die KiBA machen die beiden eine Ausnahme. Sofort hört man die ungebrochene Begeisterung für das „Schatzkästlein Frankens“, wie die Kirche dann auch noch heißt. Über die Anfänge berichtet die charismatische Fremdenführerin so:

„Die Rieterkirche heißt so, weil sie von einem Herrn Rieter gebaut worden ist. Die Rieter waren reiche Leute und haben gesagt, sie stammen aus Zypern. Deswegen zeigt ihr Wappen die Meerjungfrau mit den zwei Fischschwänzen. In der Zwischenzeit aber wissen wir, dass nie ein Rieter in Zypern war. Vielmehr war der König von Zypern auf der Durchreise, als ihm das Geld ausging. Um wieder flüssig zu werden, verkaufte er dann Wappenbriefe, also im Grunde Adoptionen. Das hörten die Rieters, die als reiche Bauern bei Ebern in den Haßbergen lebten. Sie erwarben einen solchen Brief und gingen später damit nach Nürnberg. Dort stiegen sie schnell in den Rat auf. Durch Verdienste im Krieg und geschickte Heiratspolitik wuchsen sie zu einem mächtigen Clan. Ins kleine Kalbensteinberg sind sie durch eine Hochzeit gekommen. Einer der Rieter hat ein Fräulein von Rothenburg ob der tauber geheiratet, die den Ort als Heiratsgut mit in die Ehe brachte. Diesem Herrn hat es dann – heute würde man sagen, als er in Pension ging – so gut gefallen, dass er ganz hierhergekommen ist, wo vorher nur die Sommerresidenz war. Aus Sehnsucht nach der Lorenzkirche in Nürnberg baute er diese schöne Kirche. Wenn man die von außen anschaut, erkennt man den hohen Chorraum, das niedrige Langhaus und den hohen Turm von St. Lorenz wieder. Im Kleinen natürlich.“

Vor 13 Jahren kam Erika Schäfer in den Ort. Schnell entdeckte sie, dass die Kirche eine wohltuende Wirkung auf sie hat – in einem tatsächlich leibhaftigen Sinne.

„Wenn ich hier drin bin“, erzählt die Urgroßmutter, „dann geht es mir körperlich sofort gut, egal was vorher war.“

Darum bat sie vor Jahren den Pfarrer um einen Schlüssel zum Schatzkästchen – für kleine Sanatoriumsaufenthalte sozusagen. Alleine in der üppig ausgestatteten Kirche wurde sie schnell neugierig auf all die Wappen, Kunstwerke und Sakralgegenstände, die sie umgaben.

1248 wird erstmals eine Kirche am Ort als Besitz eines Klosters erwähnt. Diese wurde dann ab 1464 durch einen Neubau in der Verantwortung der Rieter von Kornburg ersetzt und als Pilgerkirche genutzt. Die Lage am Camino nach Santiago de Compostela bot sich geradezu an und eine angeblich Bluttränen verströmende Muttergottes, die bis heute in der Kirche weilt – nunmehr freilich ausgeweint – bot als Mirakel zudem eine schöne Einnahmequelle.

In den Jahren 1609–13 ließ Hans Rieter die Kirche gründlich renovieren und prägte das innere in der heutigen Gestalt. Er war offenkundig nicht nur ein frommer Mann, sondern auch ein Freund der schönen Künste und ein leidenschaftlicher Sammler. Und konfessionell weitherzig. So finden sich etliche Ausstattungsstücke katholischer Herkunft, die in reformatorischen Kirchen Nürnbergs missliebig geworden waren und auch in der Kirche selbst von seinen Vorfahren verschämt unter das gewaltige Dach geräumt worden waren. Unglücklicherweise verstarb die Gemahlin Hans Rieters am 1. April 1609 im Alter von 41 Jahren, als die Arbeiten eben begonnen hatten. Um seiner Trauer einen angemessenen Ausdruck zu verleihen, ließ er sogleich unter dem Chor eine Gruft errichten, um sie und zukünftige Rieter, sich selbst eingeschlossen, dort würdig zur letzten Ruhe betten zu lassen. Der Plan ging nur teilweise auf: Die durch eine gute Belüftung mumifizierten Leichname von 13 Angehörigen der Familie sind tatsächlich bis auf den heutigen tag dort unten aufgebahrt. Nur Ruhe hatten sie dort nicht immer. Dr. Udo Schönwald, ehrenamtlicher Organist der gemeinde und im Brotberuf stellvertretender Leiter des landeskirchlichen Archivs in Nürnberg, ist passionierter Erforscher der Geschichte der Kirche. Er weiß einen Bericht aus anderer Zeit zu zitieren: „um 1850 habe Schulgehilfe Braunecker, später Lehrer und Kantor in Absberg, drei tage lang allein in der Gruft die damals unwürdig verteilten Knochen geordnet, um diese in eine würdigere Ordnung zu bringen. Ein Gerippe sei seit der Franzosenzeit sogar in einer Ecke gelehnt. Beim Hinlegen sei der Schädel heruntergefallen, was ihn, Braunecker, schon sehr erschreckt habe ...“ Heute bleibt die Gruft Besuchern pietätvoll verschlossen und die toten liegen in gläsernen Särgen, Schneewittchen nicht unähnlich.

Als ob die Rieter, die bis zu ihrem Aussterben 1753 das Sagen am Ort hatten, den Wankelmut des Zeitgeschmacks im Laufe der Geschichte vorausgeahnt hätten, legten sie urkundlich fest, dass auf ewig kein einmal in die Kirche gebrachter Kunstgegenstand wieder entnommen werden darf. „Das war unser glück“, glaubt Erika Schäfer, „wenn während des Dreißigjährigen Krieges oder auch später Plünderer in böser Absicht kamen, dann sagte man denen entweder: ‚Seht ihr nicht die Maria im Altar? ihr werdet doch eine katholische Kirche nicht schänden!‘ Oder eben umgekehrt: ‚Seht ihr hier irgendwo ein Weihwasserbecken? ihr wollt doch einer Kirche der Reformation keinen Schaden zufügen.‘ So ist hier nie etwas passiert.“

Das auch ohne wilde Horden etwas passieren kann, erfuhr die gemeinde vor fünf Jahren. Ingrid Haag ist die „Vertrauensfrau“ des Kirchgemeinderates, ein sympathischer Ausdruck der bayrischen Kirche für das Amt der Vorsitzenden. Sie erinnert sich:

„Oben auf dem Turm entdeckten wir irgendwann etwas, das aussah, wie ein grüner Zweig. Da müsste man irgendwann einmal nachschauen lassen, haben wir uns gesagt.“

Als aus dem „Müsste“ eine Turmbesteigung durch Industriekletterer geworden war, da erwies sich das Zweiglein als ein zwei Meter hoher Baum, dessen Wurzelwerk sich anschickte, den Turm buchstäblich zu sprengen. Ein veritabler Dachschaden also, verbunden mit dem umstand, dass sich auch teile des Dachstuhls mit bloßer Hand zerbröseln ließen. So war sehr schnell die Notwendigkeit entstanden, sehr hohe Mittel zu dessen Behebung aufzutreiben. Ein Trend unserer tage ist Upcycling. Was meint, anstatt Dinge wegzuschmeißen, kreativ neues draus zu machen: Aus Lkw-Planen werden Laptoptaschen, aus Segel Anoraks, aus turnmatten Rucksäcke. Ein solcher Geistesblitz schlug auch in Kalbensteinberg ein, als es dem Turm an den Schiefer ging und die einstige Bedachung zur Müllhalde wurde. Ansehnliche Schindel wurden geborgen, gesäubert und, mit Handlettering (noch ein Trend) und Draht liebevoll verschönt, einer neuen Existenz als Dekorationsobjekt, Erinnerungsstück oder Infotäfelchen zugeführt. Beim KirschHofFest 2018 wurden sie dann mit großem Erfolg zugunsten der Kirche verkauft. Ein Erfolg, der sich weniger im absoluten Betrag (immerhin aber über 800 Euro) bemisst, als vielmehr in der Motivation derer, die mitgemacht haben, und jener, die sich durch ein schönes Erinnerungsstück mit ihrer Kirche verbunden fühlen. Fundraising in seiner schönsten Art.

Auch zur Stiftung KiBa gelangte die trotz solch kreativer Eigenleistung missliche Lage der gemeinde. Da diese auf über zwei Jahrzehnte Erfahrung im Umgang mit historischen Kirchen zurückblickt, fiel hier die Einmaligkeit der Rieterkirche sogleich auf. Was dazu führte, dass diese im September 2018 „Kirche des Monats“ wurde, um schließlich im Juni 2019 in Rostock Bronze im Wettstreit zur „Kirche des Jahres 2018“ zu erringen.

Zur Erinnerung: Die „Kirche des Jahres“ ist ein Publikumspreis, d. h. hier zählt die Menge der abgegebenen Stimmen. Wenn – wie es beim „fränkischen Schatzkästlein“ der Fall war – ein Mehrfaches der Einwohnerzahl des Ortes zusammenkommt, dann spricht das für die Ausstrahlung einer Kirche und nicht zuletzt auch für den Enthusiasmus der Akteure vor Ort – zum Beispiel der Pfarrer.

Martin Geisler, wirkt mit seinem weißen Vollbart so stimmig in seiner Kirche, als sei er ein teil der Ausstattung und habe mit den Rieters noch persönlichen Umgang gehabt. Das sanfte Fränkisch des 66Jährigen gebürtigen Nürnbergers unterstreicht seine Bindung an die Region. Seine pastorale Leidenschaft gilt auch denen, die nicht hierher finden, und die er darum dort aufsucht, wo sie sind: in den naherholungsanlagen und Ferieneinrichtungen rund um den Brombachsee, dem größten Einzelgewässer des fränkischen Seenlandes. Wie der sprichwörtliche Hirte ist er mit seiner Schäferwagenkirche an den ufern unterwegs und hält Gottesdienst. Oder hängt ein Schild heraus: „Wir haben Zeit für Sie!“ Aufsuchende Seelsorge sagen die Fachleute dazu. Für ihn eine Selbstverständlichkeit:

„Es ist die letzte Chance für uns als Kirche, Menschen zu erreichen, ihnen zuzuhören und ihnen unser Verständnis des Lebens anzubieten.“

So ist der Pfarrer ein Wandler zwischen der flüchtigen Begegnung an den Hecken und Zäunen und seiner angestammten gemeinde rund um die Rieterkirche. Ein Spagat, den er immer wieder neu bewältigen muss. Im Herbst geht er in den Ruhestand, dann kommt jemand anderes. Die Menschen im Dorf werden auch die neuen im Pfarrhaus für ihr Gotteshaus gewinnen. So war es immer.

Das Epitaph des letzten männlichen Rieters, Johann Albrecht Andreas Adam, schmückt in üppigem ZuckerbäckerRokoko den Chor der Kirche. Wer genau hinsieht, bemerkt, dass das Wappen gestürzt, d. h. auf den Kopf gestellt ist, was bedeutet: dieses Geschlecht ist erloschen. Udo Schönwald weiß zu berichten, dass während der Beisetzungszeremonie der Pfarrer symbolisch ein auf eine dünne Holzplatte gemaltes Familienwappen zerbrach und die teile in die Gruft warf mit den Worten: „Das Geschlecht der Rieter, gewest und nimmermehr.“ Doch die Kirche ist geblieben. noch ist sie ordentlich verpackt, noch ragt ein Baukran neben ihr auf, noch wird gesägt, gehobelt und gehämmert. Doch das Ende ist absehbar. Dann wird die Rieterkirche – wieder gut bedacht – noch vielen Generationen ihre Geschichte erzählen, so sich wunderbare Menschen wie Erika Schäfer finden, die die Steine sprechen lassen können vom Leben und glauben in vergangener Zeit. Darauf und auf die Platzierung bei der „Kirche des Jahres 2018“ – natürlich – ein Kirschwasser!

aus dem Jahresbericht 2018 der Stiftung KiBa