Carillon in der Marktkirche Wiesbaden
Carillon in der Marktkirche Wiesbaden Jana Kay

Musik vom Kirchturm

Es gab eine Zeit, da bestimmten Glocken den Tagesablauf der Menschen. In der Frühe war ihr Läuten ein Weckruf, mittags riefen die Glocken zum Mahl und abends läuteten sie die Nachtruhe ein. Diese Zeit ist vorbei. Aber auch heute läuten Glocken. Sie rufen zum Gottesdienst, begleiten das „Vater unser“ und das Abendmahl, kündigen den Sonntag an, erklingen bei Taufen und läuten zu Beerdigungen. „Glocken unterbrechen die Menschen in ihrem Tun“, sagt der Pfarrer der Wiesbadener Marktkirche, Martin Fromme. „Sie erinnern im Alltag an Gott.“

Manche Glocken können aber noch mehr, als nur zu läuten. Glocken können auch Musikinstrumente sein. David van Amstel ist eigentlich Kinderpfleger in einem Palliativteam, aber seine Freizeit widmet er solchen Glocken. An diesem Samstag, kurz nach elf, steigt er zu ihnen empor in der Wiesbadener Marktkirche. 290 Stufen hoch. Die ersten 100 sind breit angelegt, ein Geländer an der Wand gibt Halt. Nach der Orgelempore aber wird der Aufstieg ungemütlich. Auf dem Dach, umnebelt von weißen Rauchfahnen aus dem Schornstein, strebt van Amstel zu einer Tür im mittleren Turm der Kirche. Eine steile und enge Wendeltreppe führt hinauf, gerade mal so breit, dass ein Mensch sie betreten kann. Putz bröckelt von den Wänden, Fliegengitter hängen in Fetzen an den schmalen Luken herab. Quasimodo, der bucklige Glöckner von Notre Dame, könnte hier sein Unwesen treiben.

„Glocken unterbrechen die Menschen in ihrem Tun. Sie erinnern im Alltag an Gott.“

Pfarrer Martin Fromme

Van Amstel, der früher Klarinette spielte, sich aber nun ganz dem Glockenspiel verschrieben hat, ist glücklich hier zu sein, an seinem „Arbeitsplatz zwischen Himmel und Erde“. Dort steht sein Instrument, das Carillon – in 65 Metern Höhe. Ein Carillon ist ein manuell spielbares Glockenspiel, das in einem Turm hängt. Hier oben in dem Marktkirchenturm befindet sich in einer zwölf Quadratmeter großen Kabine eine Stockklaviatur, mit der die 49 Glocken angeschlagen werden können. Der Spieler bewegt mit dem Tastenanschlag einen Drahtzug, der zum Klöppel der jeweiligen Glocke führt.

Mit einem Klavier hat das Instrument trotz der Tasten wenig gemein. Eher noch mit einer Orgel, denn die schwereren Glocken werden mit den Füßen über Pedale zum Klingen gebracht. Um die leichteren Glocken über ihm anzuschlagen, muss van Amstel fingerdicke Stöcke mit den Fäusten bearbeiten. Ein Kraftakt, bei dem man sich verausgaben kann. Kinofans kennen die Szene im französischen Streifen „Willkommen bei den Sch’tis“, in der Dany Boon als Antoine seinen Liebeskummer bekämpft, in dem er auf die Stocktasten eines Carillons einprügelt. Und die ganze Stadt hört dem wütenden Geläut zu.

Auch in Wiesbaden spitzt man die Ohren, wenn das Carillon erklingt. Es schlägt zwölf, ein Glockenklang aus sechs Tönen, ähnlich dem des Big Ben in London. Danach beginnt ganz zart eine spanische Romanze, gefolgt von einem ein Bach-Präludium und einem Musikstück von Berlioz. Nicht so mechanisch und gleichförmig, wie man es von automatisch betriebenen Glockenspielen kennt, sondern mal laut, mal leise, mit einer differenzierten Dynamik.

„Ein Carilloneur ist ein Straßenmusiker. Das muss man als Spieler immer berücksichtigen. Niemand hat meine Musik bestellt.“

Carilloneur David van Amstel

Als van Amstel oben im Turm sein Spiel beginnt, horchen unten auf dem Marktplatz die Besucher am Kaffeestand auf. „Es gibt eine richtige Fangemeinde für das Carillon“, sagt die Wiesbadenerin Petra Langenstein. „Toll, dass wir in einer Stadt leben, in der so etwas möglich ist“, pflichtet ihr Christiane Findeisen-Dorn bei. Eine ältere Frau am Gemüsestand vergisst für ein paar Augenblicke, um den Preis des Kohlkopfs zu feilschen, und neigt aufmerksam den Kopf. In der Pförtnerloge des gegenüberliegenden Hessischen Landtags schlägt eine junge Frau den Takt mit den Fingern. Zwei kleine Kinder tanzen auf dem Platz vor der Kirche. „Ein Carilloneur ist ein Straßenmusiker“, sagt van Amstel. „Das muss man als Spieler immer berücksichtigen. Niemand hat meine Musik bestellt.“

Die Verantwortung dafür, dass in der neugotischen Marktkirche überhaupt ein Carillon installiert wurde, trägt ein anderer: Hans-Uwe Hielscher. Als der heute 73-Jährige Anfang der achtziger Jahre seinen Dienst als Kantor der Wiesbadener Gemeinde antrat, hatte die Kirche gerade einmal fünf Glocken. Hielscher ist ein passionierter Organist, aber auch ein Liebhaber und Kenner des Carillons. Darum wünschte er sich auch eines für seine Kirche. In dem ehemaligen Marktkirchenpfarrer Thomas-Erik Junge fand er einen Verbündeten. Gemeinsam machten sie sich auf die Suche nach Spendern und Sponsoren, um die Idee in die Wirklichkeit umzusetzen.

Nach nur zwei Jahren waren 350.000 Mark für das außergewöhnliche Instrument gesammelt. Für den Bau sei kein Geld aus Kirchenkassen geflossen, betont Hielscher. Die Stadt Wiesbaden zahlte einen Zuschuss von 100 000 Mark, den sie ihrerseits als zweckgebundene Kulturspende erhalten hatte. 1986 wurde das Carillon der Marktkirche eingeweiht. Es ist mit 49 Bronzeglocken eines der größten in Deutschland. Die kleinste Glocke des Instruments bringt 13 Kilo auf die Waage, die größte 2,2 Tonnen. Alle Glocken zusammen wiegen elf Tonnen. Gegossen wurden sie in den Niederlanden.

Dort hat das Carillon eine lange Tradition. Zu der Zeit, als die Glocken die Arbeiter auf dem Felde zu Mittagspause und Feierabend riefen, spielte der Türmer als Vorwarnung eine kleine Melodie, damit der Beginn des Glockenschlages nicht so leicht zu überhören war. Die Melodie erklang zumeist auf vier Glocken, die im Viereck aufgehängt waren. Von dem französischen Wort dafür – carré – wurde wohl der Name Carillon abgeleitet. Die ersten Carillons gab es im 13. Jahrhundert. Doch die Blütezeit des Instruments begann im 17. Jahrhundert, als Glocken erstmals gestimmt werden konnten und so ein künstlerisches Spiel möglich wurde. In den Niederlanden und in Belgien wurden immer mehr Glockenspiele in Kirchen und Rathäuser eingebaut. Es gab sogar Komponisten wie Matthias van den Gheyn (1721-1785), die eigens für das Carillon Musikstücke schrieben. Heute existieren mehr als 250 Carillons in den Niederlanden und Belgien. Und dazu mehrere Glockenspielerschulen.

Carillons in Deutschland

Während in Belgien, den Niederlanden und Nordfrankreich seit dem 17. Jahrhundert viele Carillons entstanden, fand diese Idee erst im 20. Jahrhundert in Deutschland Anklang. Das größte der knapp 50 deutschen Carillons hängt im Roten Turm in Halle. Es entstand 1992 und hat 76 Glocken.

Eine Liste aller Carillons findet sich unter: www.carillon.org.

Die Carillon-Schule im holländischen Amersfoort hat auch Hielscher besucht, der der Gemeinde auch im Ruhestand noch mit einer halben Stelle als Kantor erhalten geblieben ist. Auch sein Nachfolger Thomas Frank hat dort das besondere Tastenspiel gelernt. Gastspieler David van Amstel, der aus Amsterdam stammt, fährt einmal im Monat nach Dordrecht, um sich am dortigen „Carillon Instituut Nederland“ zum Carilloneur ausbilden zu lassen. Immerhin elf Zentimeter Tiefgang haben die Stocktasten des Instruments, da können die Hände nicht schnell über die Tastatur wirbeln. Ein Glockenklang, einmal angeschlagen, lässt sich nicht zurücknehmen, es braucht Übung, einen Klangteppich zu weben. „Viele Organisten haben Angst, ihre Hände zu ruinieren“, sagt Thomas Frank. „Man braucht dafür eine gute Technik.“

Die hat er inzwischen meisterhaft entwickelt. Der 45-jährige Musiker, der seit 2010 Kantor der Marktkirchengemeinde ist, hat dort schon als Vierzehnjähriger die Orgel im Gottesdienst gespielt. Für das Carillon hat Frank viele Stücke komponiert und arrangiert, die Wiesbadener erfreute er nicht nur mit Bach und Händel, sondern auch mit Songs von den Beatles, Peter Maffay oder Elton John. Auch das Motiv des Viertelstundenschlags, das aus sechs verschiedenen Tönen besteht, und dem Glockenschlag des Big Ben ähnelt, stammt vom ihm.

Zum Lutherjubiläum spielten die Glocken „Ein feste Burg ist unser Gott“, im Advent durften sich die Besucher des Sternschnuppenmarktes, der rund um die Marktkirche aufgebaut wird, ein Lieblingslied wünschen. Bei einer Umfrage des „Wiesbadener Kurier“ und des Hessischen Rundfunks zum schönsten „Sound of Wiesbaden“ setzten die Einwohner ihr Carillon auf den ersten Platz. Ein Carillon hat offenbar nicht nur für den Musiker, der es spielen kann, einen besonderen Reiz, sondern auch für die Zuhörer. Doch nicht immer, wenn das Glockenspiel erklingt, sitzt der Kantor oder ein Gastspieler tatsächlich im Turm am Spieltisch. 145 Musikstücke hat Frank inzwischen in eine App gespeist. Er kann das Glockenspiel über Computer oder sein Handy steuern. Die Glocken werden dann mit separaten Hämmern per Elektromagnet angeschlagen.

Wenn der Carilloneur von seinem Sitz im Turm spielt, kann er den Klang selbst nicht genau hören, etwa wie sich der Ton der schweren Glocken mit dem Bimmeln der leichteren mischt. Später, wenn van Amstel die 290 Stufen vom Turm hinabgestiegen ist, wird er sich erkundigen, wie die Musik auf dem Platz wahrgenommen wurde. „Man kann zu Hause üben“, sagt er, „aber wie das Carillon dann tatsächlich klingt, ist immer wieder eine Überraschung.“

Text: Kerstin Klamroth, Fotos: Jana Kay