„Suche Frieden und jage ihm nach!“
Die Jahreslosung für 2019 steht in Psalm 34, Vers 15
Suche Frieden und jage ihm nach! Frieden – auf Hebräisch »Schalom« – ist mehr und etwas anderes als die Abwesenheit von Gewalt. Man kann Schalom mit heil oder unversehrt übersetzen, ein Zustand, in dem man mit Gott, den Menschen und sich selber im Reinen ist. Mit »Schalom« grüßen sich Menschen auf Hebräisch bis heute. Die sprachlichen Verwandtschaften haben zur Folge, dass Araber sich mit »Salam« und Westafrikaner sich auf Kiswahili mit »Salamu« grüßen. Schalom ist der Inbegriff von Menschlichkeit. Wo Schalom herrscht, gibt es nicht nur keine Gewalt; es hat jeder seinen Platz zum Leben, hat sein Auskommen an Nahrung und Trinken, hat intakte Beziehungen zu den Mitmenschen und zu Gott.
Suche Frieden und jage ihm nach! Schalom ist nicht einfach da. Schalom muss gesucht werden, ihm muss nachgejagt werden. Er braucht unter Umständen Mut und Zivilcourage.
Psalm 34 stellt diesen Satz in einen ganz und gar unfriedlichen Kontext: In Vers 1 wird auf die Szene im 1. Samuelbuch angespielt, wo David von Saul verfolgt wird, eine Truppe von marodierenden Soldaten um sich sammelt, mit denen er seinerseits auf der Flucht Gewalt und Schrecken verbreitet. An die Anspielung auf diese Szene schließen sich Weisheitsworte an. Auf Hebräisch bilden die ersten Buchstaben der Satzanfänge das Alphabet, eine dichterische Kunstform also. Die Sätze sind im Grunde Einzelsätze, Weisheiten, fromme Einsichten, die nach ihrem ersten Buchstaben zusammengestellt wurden. Der Psalm beschreibt das Feld menschlichen Handelns, enthält aber keinen Gedankengang.
Nun könnte man enttäuscht sein, dass der Psalm als Umfeld unserer Jahreslosung nicht viel zu ihrer Deutung beitragen kann. Man kann es aber auch genau anders sehen: Der Frieden gehört mitten ins Leben, so wie es ist. Er findet niemals günstige Bedingungen vor. Ob nun David auf der Flucht ist oder wir heute um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft kämpfen müssen – so zufällig wie beides nebeneinander steht, so ist der Frieden herausgefordert. Wenn man darauf wartet, dass es günstige Bedingungen gibt, bis der Frieden – von selbst – entsteht, wird man vergeblich warten. Das Leben ist, wie es ist. Es ist niemals einfach. Es braucht es immer einzelne Menschen, die mutig sind und anfangen. Anfangen mit dem Aufhören beim Mitmachen von Gewalt und Hass und Spaltung. Es kann große Wirkung haben, wenn einer sich der Gewalt, der Spaltung zwischen den Menschen nicht beugt. Wenn einer sagt: Menschlichkeit ist wichtiger. Wir können alle nicht leben ohne Schalom.
Unser Leben ist voll von Geschichten des Friedens. Beim Rückblick auf das zu Ende gegangene Jahr wird jeder und jede solche Geschichten finden. Und beim Vorausblick auf das, was kommt im Jahr 2019, stellen sich neue Hoffnungen auf Frieden ein. So sehr wir enttäuscht sind von vergeblichen Hoffnungen, weil Kriege immer weitergehen und die Gewalt kein Ende zu nehmen scheint: Auch die Geschichten vom Schalom unter den Menschen nehmen kein Ende. Sie müssen gesucht, geschrieben und gelebt werden.
Es liegt nahe, vor diesem Hintergrund einen Blick auf Jesus und seinen Weg zu werfen. Auch Jesus hat nicht mitgespielt nach den Regeln der Gewalttäter. Sein Tod und Sterben haben, wie wir glauben, allen Menschen, Guten und Schlechten, Gerechten und Sündern das Heil gebracht. Jesus hat diesen Weg mit seinem Leben bezahlt, hat sein Leben für uns, für alle Menschen, gegeben.
Zum Schluss zurück zu dem hebräischen Wort »Schalom«. Es gibt noch eine weitere sprachliche Verwandtschaft: Das Wort »Islam« ist von »Schalom« abgeleitet, enthält dieselben drei Konsonanten S, L und M und bedeutet »Hingabe«. Auch Jesu Weg durch Tod und Auferstehung war Hingabe seines ganzen Lebens. Bei allen Unterschieden zwischen den Religionen, die nicht verwischt werden sollen, ist es doch gut, eine solche Gemeinsamkeit zu sehen. In der Hingabe an das Leben und die Menschlichkeit sind wir gemeinsam auf dem Weg – oder sollten es sein.
Suche Frieden und jage ihm nach! Dieser Satz möge uns alle in diesem Jahr begleiten. Wir wissen heute noch nicht, welche Situationen es sein werden, die uns herausfordern. Aber wir können diese Gedanken in unseren Herzen bewegen und uns so darauf einstellen. Und wir können beten, dass Gott uns, wenn es darauf ankommt, den Mut zum Frieden, zum Schalom und zur Hingabe gibt.
Amen.
Eine Lesepredigt von Dr. Horst Gorski, Vizepräsident des Kirchenamtes der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und Leiter des Amtsbereiches der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD)
aus der Reihe "Die Lesepredigt", herausgegeben von der VELKD, veröffentlicht im Gütersloher Verlagshaus