Die neue alte Mitte von Canitz
Von Hanna Lucassen
Auf der Baustelle ist es verdächtig ruhig. „Sind die Handwerker wieder nicht gekommen?“ Ralf Zscherper zieht die Augenbrauen hoch und schlüpft durch den Bauzaun auf das Kirchengrundstück. Der schlanke Mann mit dem Schnurrbart hat eine freundliche, ruhige Art, er ärgert sich nicht so schnell. Aber die wachsende Unruhe kann er nicht verhehlen. In zwei Monaten soll die Canitzer Kirche wiedereröffnet werden – das Datum steht schon in der Gemeindezeitung, im Internet, auf Plakaten. Um die 150 Gäste werden kommen, vielleicht auch noch mehr. Ralf Zscherper ist aktiv in der Kirchen- und Ortsgemeinde, die Baustelle ist so etwas wie sein Baby. Er sieht vor allem: Es ist noch so viel zu tun!
Endspurt in einem besonderen Förderprojekt der Stiftung KiBa. Schauplatz ist Canitz, ein Dorf am Rande der Kleinstadt Riesa zwischen Leipzig und Dresden. Rund 500 Einwohner, eine Hauptstraße, ein Fußballplatz, ein Friedhof – und mittendrin eine Kirche, von der fast fünfzig Jahre lang nur die Grundmauern standen und die nun neu aufgebaut wurde. Das schlichte Gebäude mit dem roten Spitzdach, den weiß getünchten Mauern und den hohen Klarglasfenstern ist fast fertig, aber eben noch nicht ganz: Am Portal hängt eine provisorische rostbraune Blechtür. Im Eingangsbereich stolpert man über Steine, Leitern und Werk zeuge. Die Elektroarbeiten sind noch nicht abgeschlossen. Die Treppe zur Empore fehlt. Immerhin ist der Boden fertig gefliest mit gelbem Sandstein, die Wände sind hell verputzt, Licht fällt durch die komplett verglaste Rückwand in den leeren Innenraum, und man kann sich gut vorstellen, wie hier bald Menschen auf Kirchenbänken sitzen und einer Predigt lauschen. Drinnen soll es Platz für 60 Personen geben, bei der Einweihung wird der Rest draußen in einem Zelt Platz finden.
Wiederaufbau nach so vielen Jahren – warum? Weil ganz viele im Dorf es wollten, nicht nur die etwa 50 Gemeindemitglieder. „Uns fehlte ein Zentrum, wo man sich begegnet und gerne verweilt. In unserer Dorfmitte klaffte stattdessen eine Wunde. Tote Mauern. Da geht niemand gerne hin“, sagt Ralf Zscherper.
Beate Keller, eine sportliche blonde Frau, die gerade auf dem Kirchenfriedhof Blumen einpflanzt, ist nicht Mitglied in der Kirchengemeinde. Aber trotzdem ist sie ein Fan des Projekts. Sie kam als junge Frau nach Canitz und hat ihr halbes Leben mit der Ruine gelebt. „Natürlich hat man sich irgendwie an den Anblick gewöhnt. Da drüben war halt nichts.“ Sie zeigt über die halbhohe Mauer zur Kirche. „Aber es blieb eine Lücke.“ Auf alten Fotos sieht man, was sie meint: Die Gräberreihen mit den bunten Blumen und polierten Grabsteinen wirkten vor der Ruine fast fröhlich und bewohnt. Hier der Tod, dort das Leben – in Canitz hatte sich das seltsam verschoben.
Die Canitzer Kirche entstand im 13. Jahrhundert als Abteikirche, neben einer noch älteren Wasserburg, die später zum Schloss wurde. Beide Gebäude bildeten über Jahrhunderte den Dorfkern, ab dem 19. Jahrhundert zusammen mit Gastwirtschaft, Schule und Pfarrhaus. Nach dem Zweiten Weltkrieg veränderte sich das. Das Schloss wich 1948 einem Sportplatz. Der barocken Kirche mit dem kräftigen Glockenturm setzten Kriegsschäden und noch ältere Defekte zu. Immer wieder waren Ausbesserungen notwendig. Das Dach war schadhaft, Regenwasser zerstörte das hölzerne Tragwerk. 1967 wurde das Gebäude schließlich wegen Baufälligkeit und akuter Einsturzgefahr geschlossen. Die Gemeinde feierte fortan ihre Gottesdienste im Pfarrhaus. Ein Raum im Erdgeschoss, das reichte für die etwa 20 Leute, die sonntags kamen.
Dorfkirche Canitz (Kreis Meißen, Sachsen) (c) Iona Dutz
Dorfkirche Canitz (Kreis Meißen, Sachsen) (c) Iona Dutz
Dorfkirche Canitz (Kreis Meißen, Sachsen) (c) Iona Dutz
Dorfkirche Canitz (Kreis Meißen, Sachsen) (c) Iona Dutz
Dorfkirche Canitz (Kreis Meißen, Sachsen) (c) Iona Dutz
Dorfkirche Canitz (Kreis Meißen, Sachsen) (c) Iona Dutz
Dorfkirche Canitz (Kreis Meißen, Sachsen) (c) Iona Dutz
Dorfkirche Canitz (Kreis Meißen, Sachsen) (c) Iona Dutz
Dorfkirche Canitz (Kreis Meißen, Sachsen) (c) Iona Dutz
Der Kirchenabriss im Jahr 1975 tat dann trotzdem weh, erinnert sich Zscherper. Er erfolgte halbherzig. Die Außenmauern blieben etwa vier bis fünf Meter stehen. Der ganze Schutt wurde ins Innere geworfen. Zurück blieb „eine Schrotthalde“, sagt Zscherper.
Die Natur überwucherte die Ruine, das Laub schoss in die Höhe. In der Familie von Jochen Kinder sprachen sie deshalb immer von der „Bäumekirche“. Der heutige Superintendent des Kirchenbezirkes war von 2005 bis 2018 als Gemeindepfarrer für Canitz zuständig. Er war erst wenige Monate im Amt, als er zusammen mit Ralf Zscherper und ein paar anderen aus dem Ort den Förderverein für den Wiederaufbau der Kirche gründete. Landfrauen, Fußballer – bald war das halbe Dorf dabei. Die Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner räumten einen leerstehenden Container zu einem Vereinsheim um, diskutierten Fördermöglichkeiten, ent- und verwarfen Pläne. Im Flur des Vereinsheims pinselten sie einen Spruch von Victor Hugo an die Wand: „Nichts ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Jochen Kinder erinnert sich: „Manchmal braucht es den Impuls von außen, um die Dinge in Bewegung zu bringen.“
In Canitz waren es sogar drei Impulse: der neue Pfarrer. Ein zugezogener Canitzer, der im Gemeinderat mal fragte: „Warum steht da denn immer noch eine Ruine?“ Und die Frauenkirche in Dresden, deren strahlender Wiederaufbau weltweit für Aufsehen sorgte. „Was Dresden kann, kann Canitz auch!“, fasst Jochen Kinder mit einem Augenzwinkern die Aufbruchstimmung von 2005 zusammen.
Natürlich hielt diese nicht die ganzen 17 Jahre an. Durststrecken gehörten dazu. Es gab viele Jahre, in denen kaum etwas passierte. Und niemand mehr so recht an die Idee glaubte. Aber dann gab es immer wieder Motivationsschübe. Zum Beispiel, als Jochen Kinder bei einer Versammlung des Fördervereins vorsichtig anfragte: „Wollt ihr mal ins Fernsehen?“ Das war 2019. Im Rahmen der MDR-Sendung „Mach dich ran“ konnten Gemeinden gegeneinander antreten und Geld für die Sanierung ihrer Kirchen gewinnen. Die Stiftung KiBa hatte insgesamt 400 000 Euro Preisgeld ausgeschrieben. Jetzt machten sich die guten Kontakte in den Canitzer Sportverein bezahlt: Ein vierköpfiges Team steckte Hängestühle zusammen, lief Parcours, erriet Musiktitel und schaffte es ins Finale. Canitz erreichte den dritten Platz und gewann 70 000 Euro. Das Dorf jubelte. Eine vergrößerte Kopie des Schecks hängt heute im Vereinsheim an der Wand.
Jochen Kinder steht auf der Noch-Baustelle, um die bereits Rasen gesät ist, und blickt sich zufrieden um. Das neue Gotteshaus sieht anders aus als die ausladende Kirche vor dem Abriss, die er auch nur von Fotos kennt. Es ist kürzer, hat keinen Glockenturm, wirkt vergleichsweise bescheiden. „Wir haben uns an dem Grundriss der Originalkirche aus dem 13. Jahrhundert orientiert. Das war eine einfache kleine Abteikirche“, sagt Kinder. Im 17. Jahrhundert hatte der damalige Rittergutsbesitzer sie vergrößert, einen Glockenturm eingebaut und einen großen Altarraum hinzugefügt.
Die neue Kirche verzichtet auf beides. Die Glocken läuten seit 1989 in einem eigenen kleinen Turm am Rande des Friedhofs. Und der ehemalige Altarraum ist auch nicht ganz verloren. Dessen Grundmauern sind noch da, weiß getüncht umschließen sie einen kleinen Hof hinter der gläsernen Rückwand der Kirche. In dessen Mitte steht ein Steinquader, der Sockel des ehemaligen Hochaltars. Eine hübsche kleine Kapelle unter freiem Himmel – die ersten Anfragen für Tauffeiern gebe es schon, sagt Ralf Zscherper. Das wird schön, da ist er sicher. Aber auch rechtzeitig fertig? Er schaut beschwörend zum Himmel. Und dann auf die Uhr. Er muss jetzt erst mal nach Hause, die Handwerker anrufen. Hilft ja nix!
Die Wiedereröffnung der Kirche soll ein großes Fest für das Dorf werden. Ganz viele wollen dabei sein, auch wer nicht zur Kirchengemeinde gehört. Wie Beate Keller und ihr Mann Gerd: „Wir werden alle kommen!“ Gerd Keller ist Vorsitzender des örtlichen Sportvereins, und es ist ihm ebenso wichtig wie Ralf Zscherper, dass das Dorf lebendig bleibt. „Durch den Wiederaufbau sind wir alle mehr zusammengewachsen“, sagt er. Auch die Kinder des Ehepaars mit den Enkeln werden mitfeiern. Dass die in Canitz geblieben sind, schreibt Gerd Keller auch dem Kirchenprojekt zu: „Die jungen Leute sehen, dass hier was Neues entsteht. Und dass man mitmachen kann.“
Diese Reportage ist im Stiftungsrundbrief „KiBa Aktuell“ 2/2022 erschienen.
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KiBa Aktuell 2/2022
pdf 2,25 MB