Eine Krippe mit großer Tradition
In den „Oberlin Werkstätten“ in Potsdam fertigen Menschen mit Behinderungen besondere Weihnachtsfiguren aus Ton, jede in Handarbeit und mit viel Sorgfalt und Liebe.
Bis die Figur der Maria vor ihm stehen wird, liegen drei Stunden Arbeit vor Frank Engler. Der 50-Jährige atmet tief ein. Los gehts: Im Stehen knetet er den ballgroßen Tonklumpen auf dem Tisch, dann walzt er ihn mit einer Art großen Teigrolle zu einer Platte, die etwa viermal so dick wie ein Pizzateig ist. Sorgsam wie ein Koch hebt er sie an, legt sie in eine Gipsform und beginnt, den Ton in die Form zu drücken. Jetzt braucht es Gefühl! Er muss die Form ausfüttern, doch nicht zu dick und nicht zu dünn, sonst bilden sich Luftblasen oder der Ton reißt.
In der Oberlin-Keramikwerkstatt in Potsdam herrscht eine ruhige Atmosphäre, hin und wieder ist ein Lachen zu hören. An fünf Arbeitstischen formt ein gutes Dutzend Frauen und Männer Tongefäße. Manche sitzen im Rollstuhl, einer ist blind. Hinter Frank Engler stehen in den Regalen weihnachtliche Krippenfiguren aus rostrotem Ton, die bereits gebrannt wurden. Alle sind sie da: Maria und Josef, das Kind in der Krippe, Hirten, Könige, Ochs und Esel und Schafe.
„Das machst du sehr gut“, sagt Cornelia Weise anerkennend zu Frank Engler. Die 60-Jährige geht von Tisch zu Tisch. Sie leitet die Werkstatt mit 16 Mit arbeiterinnen und Mitarbeitern, die Vasen, Keramik skulpturen wie Häuschen oder Engel fertigen und das ganze Jahr über auch die Figuren für die Oberlin-Weihnachtskrippen. „Es ist eine schwere Arbeit für unsere Beschäftigten, aber es ist eine schöne, und es macht sie stolz“, erklärt die Werkstattchefin.
Entstanden ist die Oberlinkrippe durch die glückliche Zusammenarbeit zwischen einer Bildhauerin und einem Handwerksmeister in den 1950er Jahren. Die Künstlerin Ilse Scheffer hatte die Krippenfiguren entworfen und sie kannte Nikolaus Leist, den damaligen Meister der Keramikwerkstatt. Leist schätzte die Figuren, die mit ihrer geschlossenen Form, den oftmals großen Händen und Köpfen an die Werke des Bildhauers Ernst Barlach erinnern. Er begann, Menschen mit Behinderung zu deren Herstellung anzuleiten. Als Ilse Scheffer 1954 in den Westen ausreisen wollte, sollte sie alle ihre Werke dem DDR-Staat überlassen. Kurzentschlossen schenkte sie die Gipsnegative der Behinderteneinrichtung. In einem Rundbrief des Oberlinhauses heißt es: „Sie formen Werke von einer solchen Schönheit und Innigkeit, dass die Menschen, die von draußen aus dem lauten Leben zu uns kommen, ganz still davor werden.“ Die Figuren wurden schnell beliebt und auch als Postkartenmotive gern verwendet.
Die Keramikwerkstatt, in der die Krippen entstehen, ist Teil der „Oberlin Werkstätten“ auf der Halbinsel Hermannswerder in Potsdam. Die Einrichtung gehört zum Verein Oberlinhaus in Potsdam-Babelsberg, einem diakonischen Kompetenz zentrum für Teilhabe, Gesundheit, Bildung und Arbeit in der Region Berlin-Brandenburg. Namens geber der vor 150 Jahren gegründeten Institution ist der elsässische Pfarrer, Pädagoge und Sozialreformer Johann Friedrich Oberlin (1740-1826). Mittlerweile bieten die Werkstätten rund 400 Arbeitsplätze für Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen, Sinneseinschränkungen oder psychischen Beeinträchtigungen.
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Frank Engler arbeitet seit 25 Jahren in der Keramikwerkstatt. Seine Lieblingsfigur ist die Maria (c) Anja Lehmann
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Cornelia Weise leitet die Werkstatt. Mit ihrem Können hält sie die Tradition der Oberlinkrippen lebendig (c) Anja Lehmann
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Jede Figur erfordert viel Fingerspitzengefühl bei der Herstellung (c) Anja Lehmann
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Seit mehr als 60 Jahren entstehen die Weihnachtskrippen in den „Oberlin Werkstätten“. (c) Anja Lehmann
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Wer mit Ton arbeitet, muss eine Vorstellung von der Form dessen haben, das dabei entstehen soll (c) Anja Lehmann
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Vor der Pandemie fertigte die Werkstatt rund 170 kleine und 25 große Krippenfiguren im Jahr. Jetzt gibt es einen Rückstau wegen der Corona-Pause. (c) Anja Lehmann
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Fertig gebrannte Krippenfiguren lagern neben den Gipsformen, in denen sie gebildet wurden (c) Anja Lehmann
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Auch aus Kanada oder Österreich kam schon Post mit der dringenden Bitte um eine Krippe. (c) Anja Lehmann
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Die Kunden sind den Krippen verbunden. Oft komme es vor, dass ein Enkel eine Figur für die von den Groß eltern geerbte Krippe nachbestellt. (c) Anja Lehmann
„Geschafft!“ Frank Engler atmet tief durch. Vor ihm steht die große Maria. Etwa eine Stunde hat die Figur in der Form gelegen, bis sie trocken genug war, dass man sie herauslösen konnte. Noch hat sie an den Seiten, wo das vordere und das hintere Teil zusammengefügt sind, Nähte. In der kommenden Stunde wird Frank Engler diese Nähte glätten, jeden kleinsten Tonkrümel entfernen mit einem Holzstab, der eine Drahtschlaufe am Ende hat. Er hält einen Moment inne, spitzt die Lippen und setzt den Stab an. Wer mit Ton arbeitet, müsse eine Vorstellung von der Form dessen haben, das dabei entstehen soll, erklärt Cornelia Weise, die seit 30 Jahren in den Werkstätten arbeitet.
Frank Engler ist schon 25 Jahre dabei und habe sich, wie die Werkstattleiterin feststellt, in dieser Zeit viele Fähigkeiten angeeignet. Er kennt sich mit Ton, Glasuren und der Herstellung verschiedener Keramikprodukte aus. Viel spricht er nicht, aber wenn, dann ist er klar in seinen Aussagen. Hat er selbst eine Krippe zu Hause? „Nö, zu teuer.“
Die Figuren haben ihren Preis. 1420 Euro kostet eine große Version der Krippe, 481 Euro die kleine Krippe. Für die Maria, die Frank Engler jetzt mit Wasser und Pinsel glatt streicht, werden Kunden 105 Euro zahlen. Doch im Verhältnis zum Aufwand ihrer Herstellung ist das geradezu günstig. Denn nicht nur Engler arbeitet an der Maria. Alle Figuren werden von Cornelia Weise nachmodelliert. Die Kunsthandwerkerin arbeitet mit Modellierhölzern die Feinheiten aus den Figuren heraus. Bei einem kleinen Hirten, den sie behutsam in der Handbeuge hält, zeichnet sie jetzt das Oberlid, dann das Unterlid nach, bis die Augen einen staunenden Ausdruck bekommen. An den Ärmeln drückt sie den Ton, damit sich die Wulst des Gewandes besser herausbildet. Bei den kleinen Figuren müssten oft die Gesichter schmaler gemacht werden, und kahle Köpfe seien fast schwieriger zu modellieren als solche mit Haaren, erklärt sie.
Die Kunden sind den Krippen verbunden, weiß Cornelia Weise. Oft komme es vor, dass ein Enkel eine Figur für die von den Groß eltern geerbte Krippe nachbestellt. Aber auch aus Kanada oder Österreich kam schon Post mit der dringenden Bitte um eine Krippe. Vor der Pandemie fertigte die Werkstatt rund 170 kleine und 25 große Krippenfiguren im Jahr. Jetzt gibt es einen Rückstau wegen der Corona-Pause. Eine komplette Krippe ist frühestens zum Weihnachtsfest 2022 zu bekommen.
Am Stammsitz des Vereins in Potsdam-Babelsberg sind die Krippenfiguren fast überall zu sehen – im Foyer der Oberlin klinik, im Reha zentrum, in den Wohngruppen häusern und natürlich in der Oberlin kirche. „Wir stellen die Krippe traditionell vor die Kanzel und zwar so, dass man sie von allen Seiten sehen kann“, erzählt Pastor Matthias Amme. „Sie sind zum An schauen, aber auch zum An fassen, weil sie so schön zu fühlen und handschmeichlerisch sind.“ Mitunter werden die Figuren sogar im Unterricht an der Oberlinschule benutzt, ihre klaren Formen können auch Blinde gut er fühlen. Auch an vielen anderen Orten stehen Oberlinkrippen, erklärt Amme: „Ob Sie nach Magde burg zur Wallonerkirche oder zur Nikolaikirche in Potsdam fahren, in den östlichen Bundesländern finden Sie die Krippen in vielen Kirchen.“
Zum Schluss muss noch eine Delle weg: Frank Engler setzt den Modellier stab an und glättet Marias Sockel. „Ich glaube, ich bin fertig. Jetzt steht sie gut“, sagt er, und ein feines Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Cornelia Weise hebt die Figur an und hält sie in der Handfläche wie eine Kostbarkeit. Sie wird am nächsten Tag noch prüfen, ob auch ja keine Risse zu sehen sind und ein bisschen die Hände nacharbeiten. Dann kommt die tönerne Maria in einen der beiden Brennöfen, wo sie bei 950 Grad gebrannt wird. Und irgendwo auf der Welt wird sich schon jemand auf die neue Krippenfigur freuen.
Von Katrin Wienefeld
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