„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist“
Gedanken zur Jahreslosung 2021
Seit neunzig Jahren wählt die Ökumenische Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen einen Bibelvers als Jahres-Leitgedanken aus, jeweils drei Jahre im voraus. 2021 steht die Jahreslosung im Lukasevangelium im sechsten Kapitel in Vers 36 – sie wirkt beinahe prophetisch.
Im Rückblick auf das vergangene Jahr 2020 wirkt der Kontext zu Vers 36 mitten in der Corona-Pandemie reichlich befremdlich: zusammen mit seinen frisch berufenen Jüngern tritt Jesus auf ein ebenes Feld. Eine große Menschenmenge aus Jerusalem und dem Küstenland ist ihm gefolgt. Man will den Messias hören – und viel wichtiger – ganz nah an ihn heran kommen und ihn berühren. Vor allem Kranke hoffen auf Heilung durch Berührung.
Aktuell schwer vorstellbar. Oder vielleicht doch: in der Begegnung und in der Nähe liegt eine wunderbare Kraft, Jesus verströmt Vertrauen, Lebenskraft und die Energie Gottes. Genau das, was wir in den vergangenen Monaten vermisst haben. Statt dessen haben viele Menschen erfahren, was Einsamkeit eigentlich bedeutet. Und wie wichtig die Liebe unter den Menschen ist. Sie ist Lebenselixier und Grundstoff für Gemeinschaft. Manch einer mag sich an den 1. Brief des Paulus an die Korinther erinnert fühlen: „Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“ (1. Kor 13, 13). Genau das ist es!
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist!“ Der Aufruf ist klar. Gottes Liebe und Barmherzigkeit sind allgegenwärtig – wer sind wir denn, dass wir anders handeln? Und es geht noch weiter: wir sollen andere nicht richten, um nicht selbst gerichtet zu werden. Ebenso wenig sollen wir andere verdammen, um nicht selbst verdammt zu werden. Geben, um gegeben zu bekommen. Ist das nicht selbstverständlich? Offenkundig nicht. Und schaut man sich nach neun Monaten Pandemie um, wird es noch offensichtlicher. Bei vielen liegen die Nerven blank, mal zu Recht und mal durch nichts zu rechtfertigen.
Also Barmherzigkeit – so wie Gott, den wir Vater (oder Mutter) nennen dürfen, uns gegenüber walten lässt. Denn die Gnade Gottes ist ja da, wir müssen sie nur annehmen. Und weitergeben in unsere Gesellschaft als Kraft zum Heilen. Ist Barmherzigkeit also eine Art Impfstoff für die Seele? Das Bild ist gar nicht so unpassend. Diesen Impfstoff tragen wir auch längst in uns – in unbegrenzter Menge, mit hervorragender Wirksamkeit und garantiert ohne Nebenwirkungen.