Eine Kirche, viele Zwecke
Von Dorothee Heintze
Das war einer dieser Momente, in dem Simone Carstens-Kant klar wurde: Wir sind auf dem richtigen Weg. Es war im letzten Winter. In der Marktkirche in Halle werkelten noch Bauarbeiter. Doch die großen neuen Glasfenster in der Außenmauer hatten sie schon eingesetzt. In den Fenstern standen ein Gitarrist, ein Saxofonist, eine Keyboarderin und sie spielten Jazz. Die Menschen blieben stehen, staunten. Ein älterer Herr sprach die Pastorin an: „Wissen Sie, ich habe mein ganzes Leben lang hier gewohnt, aber ich war noch nie in der Marktkirche. Jetzt gehe ich mal hinein.“
Aufgewachsen in Halle, die Wende miterlebt, in der Stadt gearbeitet, dort Rentner geworden – doch in der berühmten Marktkirche seiner Stadt, die mit ihren vier Türmen die Stadtsilhouette bestimmt, war der Mann noch nie gewesen? Pfarrerin Simone Carstens-Kant kann es auch im Rückblick kaum glauben. Einerseits.
Andererseits ist die Haltung, die Kirche als „Blackbox“ wahrzunehmen, nicht untypisch. Auch deswegen steht die Pfarrerin heute hier mit der KiBa-Reporterin und der Hallenser Architektin Claudia Cappeller vor den geöffneten Türen der nun fast fertig renovierten Betstuben. Und erklärt, wie sich die Kirche zur Stadt hin öffnen wird. Die Marktkirche war und ist der jahrhundertealte Mittelpunkt der Stadt Halle. Doch sie wirkte, so berichtet die Pastorin, durch ihre historische Fassade immer sehr geschlossen, grau, fast ein wenig abweisend: „Diesen Eindruck haben wir jetzt zumindest in Teilen im wahrsten Sinne des Wortes ‚aufgebrochen‘ und laden die Menschen ein, ihre Kirche neu zu entdecken.“
Etwa durch die nun häufig zur Straße hin geöffneten Türen der Betstübchen. Aus diesen kleinen Stuben kann man durch ein Fenster in den Innenraum der Kirche schauen. Früher konnten sich Bürger der Stadt diese kleinen Räume mieten, um quasi inkognito am Gottesdienst teilzunehmen. Nun wird hier Platz für das Büro der Citypfarrerin, eine Infobox, kleine Ausstellungen und musikalische Darbietungen. Das kleine Jazzkonzert im vergangenen Winter war nur der Auftakt für viele geplante „Bespielungen“ der Betstübchen. Auch im prachtvollen Innenraum wirkt die Kirche nach der Renovierung viel einladender. Hell und freundlich erscheinen die gereinigten Mauern, das flirrende hohe Gewölbe leuchtet in warmen Blau- und Grau tönen, dazu das Gold der Ornamente an den Wänden. Ein Raum zum Staunen, aber auch zum Wohlfühlen: Trotz der monumentalen Größe und Pracht wirkt er heimelig. Und ja, darf man das über eine so prachtvolle Kirche überhaupt sagen: irgendwie „gemütlich“?
Architektin Claudia Cappeller lacht, wenn sie solche Worte hört. Schließlich war das genau ihr Ziel: die Kirche zugänglicher zu machen, ein öffentlicher Raum, in dem sich viele wohlfühlen können, vielleicht und gerade auch dann, wenn ihr Besuch nicht religiös motiviert ist. „Multi codiert“ lautet der Begriff, den Claudia Cappeller dazu gern benutzt. Will heißen, im Kircheninneren wird wie außen in den Betstuben zukünftig vieles möglich sein: Kino und Multimedia, Tanz, Theater, Ausstellungen, Musik und Lesungen, Diskussionen. Und natürlich schöne Gottesdienste und vielfältige geistliche Konzerte. Mit ihren rund 3000 Mitgliedern hat die Marktkirche für Ostverhältnisse eine große und vor allem eine sehr lebendige Gemeinde.
Marktkirche Halle (Sachsen-Anhalt) (c) Dorothea Heintze
Marktkirche Halle (Sachsen-Anhalt) (c) Dorothea Heintze
Marktkirche Halle (Sachsen-Anhalt) (c) Dorothea Heintze
Marktkirche Halle (Sachsen-Anhalt) (c) Dorothea Heintze
Marktkirche Halle (Sachsen-Anhalt) (c) Dorothea Heintze
Marktkirche Halle (Sachsen-Anhalt) (c) Dorothea Heintze
Marktkirche Halle (Sachsen-Anhalt) (c) Dorothea Heintze
Marktkirche Halle (Sachsen-Anhalt) (c) Dorothea Heintze
Marktkirche Halle (Sachsen-Anhalt) (c) Dorothea Heintze
Seit 1998 lebt die gebürtige Berlinerin Claudia Cappeller mit ihrer Familie in Halle und ist mit einem eigenen Architekturbüro fest verwurzelt in der Stadtgesellschaft. Intensiv hat sie sich mit der Geschichte der Marktkirche und den Auflagen des Denkmalschutzes befasst. Feinfühlig hat sie ein Konzept für die architektonische Neuausrichtung des Denkmals entworfen. Zum Beispiel das Licht. Zusammen mit einer Lichtplanerin hat sie das Beleuchtungskonzept entwickelt: modernste LED-Technik, eine ausgeklügelte Hängung der Leuchten, dazu deren schlanke Form aus poliertem Stahl, in Form und Farbe den Orgel pfeifen der zwei historischen Orgeln nach empfunden. Im Dunkeln leuchtet die Kirche jetzt aus ihren Glasfenstern von innen nach außen in die Stadt, macht die historische Wegmarke sichtbarer, freundlicher.
Und noch viel mehr ist neu. Zwei alte Ratslogen unter der Orgel lassen sich mit wenigen Handgriffen zu Ausstellungsflächen umfunktionieren. Handschriften des in Halle geborenen Musikgenies Georg Friedrich Händel wurden hier schon gezeigt. Der historische Boden wurde mit einer Fußbodenheizung und Hörschleifen für schwerhörige Menschen versehen. Ein barrierefreies WC ist genauso selbstverständlich mitgeplant worden wie eine Teeküche und neue Lautsprecher.
Die Marktkirche in Halle zählt zu den wichtigsten spätgotischen Kirchbauten in Mitteldeutschland. Ein kulturhistorischer Schatz mit einer dazu noch sehr außergewöhnlichen Baugeschichte. Denn ursprünglich standen auf dem Marktplatz von Halle zwei kleinere Pfarrkirchen aus dem 11. und 12. Jahrhundert. Doch dem von 1513 an regierenden Landesherrn der Stadt, dem katholischen Kardinal Albrecht von Brandenburg, war das zu kleinteilig: Luther und seine Reformation bedrohten sein Herrschaftsgebiet. Der große Wurf musste her, und so wurden die beiden kleinen Kirchen abgerissen und zwischen den stehen gebliebenen Türmen entstand das prachtvolle, spätgotische Kirchenschiff in einer neuen Form: die „Marktkirche Unser Lieben Frauen“.
Was als katholische Machtdemonstration gedacht war, wurde in den folgenden Jahren zu einem wichtigen Ort der Reformation. Dreimal hat Martin Luther hier gepredigt, sein Leichnam wurde in der Kirche aufgebahrt, heute noch geben seine in der alten Sakristei präsentierte Totenmaske und die historische Holzkanzel davon beredtes Zeugnis.
Darf in ein so bedeutendes historisches Bauwerk überhaupt so stark baulich eingegriffen werden? Dürfen historische Räume wie die Betstuben für moderne Kunstinstallationen, zum Beispiel einer jungen Berliner Fotokünstlerin, umgenutzt werden? Kino im gotischen Kirchenschiff? Vielleicht sogar ein Candle light-Dinner? Was sagt der Denkmalschutz dazu?
Kaum jemand kann in Halle dazu berufener Auskunft geben als Dr. Ulrike Wendland. Die Hallenserin ist nicht nur Mitglied im Gemeindekirchenrat, sondern auch Geschäftsführerin des Deutschen Nationalkomitees für Denkmalschutz in Berlin. Zwei Amtsperioden lang war sie Mitglied des Vorstandes der Stiftung KiBa.
Die oben aufgeworfene Frage musste sie schon in vielen Diskussionen in der Stadt und der Kirchengemeinde beantworten und sie gibt darauf eine auf den ersten Blick überraschende Antwort: Ihrer Profession gehe es ja vor allem um den Erhalt des Gebäudes. „Doch wo Kirchen leer stehen, weil niemand mehr kommt, nützt auch die schönste Renovierung nicht.“ Und genau deshalb sei die neue Marktkirche in Halle ein Modellvorhaben für viele weitere Kirchen in Deutschland: „In Halle möchten wir zeigen, was Kirche heute alles kann.“
Diese Reportage ist im Stiftungsrundbrief „KiBa Aktuell“ 3/2022 erschienen.
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KiBa Aktuell 3/2022
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