Schmetterlinge im Bauch
90. Geburtstag von Dr. Martin Weisbrod
Ein Senior wird neunzig und man gratuliert. Klingt wenig aufregend, doch was sich in der Alten Winzinger Kirche zu Ehren des Stifters Martin Weisbrod zugetragen hat, kann man als Essenz des Stiftungsgedankens verstehen: Es macht Sinn und ist einfach gut. Die Ehrung einer Ehrung in Neustadt an der Weinstraße.
Dem SteinwayFlügel der Alten Winzinger Kirche entschweben Heerscharen von Schmetterlingen. Sie schwärmen in den Raum, verzücken die Augen der Erinnerung und lassen sich als gewichtslose Glückseligkeit auf den Gemütern der Versammelten nieder. Das „Schmetterlinge“ genannte Opus 25 Nr. 9 von Frédéric Chopin ist kurz wie das Leben der bunten Falter und auch so filigran wie sie. Als die letzten Töne verklungen sind, ist es für einen Augenblick ganz still, bis ein sich aus Entrückung in Begeisterung befreiender Applaus aufbrandet und die Pianistin Annette Weisbrod sich vom Instrument erhebt. Die 1937 in England geborene Eidgenossin wurde international gefeiert und bespielte Kreuzfahrtschiffe in deren mondäner Ära. Diesmal ist sie eigens mit dem Zug aus Zürich in die Pfalz gereist, um ihren Verwandten, Dr. Martin Weisbrod, mit einem Rezital zu seinem 90. Geburtstag zu ehren. Nach einer Stunde mit Reden und schöner Musik tritt der Hochbetagte selbst ans Mikro. Man merkt die Rührung. Als er auf seine 2022 verstorbene Frau zu sprechen kommen will, versagt ihm die Stimme. Hoch über dem Rednerpult fällt an diesem Sommertag, den kein Wölkchen trübt, Licht auf zwei große Fenster und feuert ihr jeweils monochromes rotes und blaues Farbspiel an. Die (Kirchenfenster)Bilder sagen in diesem Moment mehr als tausend Worte über Sinn und Kraft der Dr. Weisbrod-RussStiftung in der Stiftung KiBa.
Die Fenster stammen von Thomas Kuzio. Nationale Bekanntheit erlangte er durch seine Buntglasfenster im Ulmer Münster. Den Künstler und den Stifter verbindet eine gewachsene Freundschaft. Die im Frühjahr 2023 eingeweihten Fenster der Alten Winzinger Kirche sind ein besonderer Clou und zeugen vom gestalterischen Mut aller Beteiligten: Auf der Ostwand der Kirche wurden bei Renovierungsarbeiten mittelalterliche Fresken der Verkündigung des Erzengels Gabriel an Maria gefunden. Sie sind groß, fast monumental und von beeindruckender Ausdruckskraft. In dieser Kirche fand Martin Weisbrod spät einen geistlichen Heimathafen. Folglich wollte er ihr mit Hilfe der Stiftung etwas Gutes tun und lud seinen Künstlerfreund zur Begutachtung ein. Der füllte die den Fresken nächstgelegenen Fenster mit exakten Nachstellungen der Figuren: Maria – comme il faut – tiefblau und der Engel intensiv rot.
Dieser spannungsvolle Dialog religiöser Darstellung zwischen Jahrhunderten hebt den Raum auf ein anderes Level und wird den Stifter überdauern. Wer die Ewigkeitsidee von Stiftungen meditieren möchte: Hier ist der Ort dafür.
Was nun solche Früchte trägt, begann banal bei gemeinsamer Zeitungslektüre. Dem Protestanten Martin Weisbrod und der Katholikin Christine Russ fiel 2006 das der Zeitung beiliegende evangelische Magazin „chrismon“ in die Hände. Als sie dort den Bericht über die KiBa-Aktion „AUS 2 MACH 3“ lasen, waren beide Feuer und Flamme: 30 Kirchen wurden vorgestellt, für die um Spenden gebeten wurde, welche die KiBa jeweils um ein Drittel aufstocken würde. Die Wahl des Paares fiel auf St. Nicolai im vorpommerschen Bauer in Wehrland: klein, abseits größerer Städte und ausgetretener Touristen pfade, förderungswürdig und unterstützungsbedürftig. Man spendete großzügig, die Kirche er reichte den zweiten Platz des Spendenmonitors. Dem Ehepaar reichte das nicht: In dem Willen, noch mehr zu tun, nahm es Kontakt mit der Stiftung KiBa auf.
Am 31. März 2007 mündete der ja immer etwas papierlastige Verwaltungsprozess einer Stiftungsgründung in einen feierlichen Gründungsakt: Mit einer gottesdienstlichen Feier in eben jenem kleinen Kirchlein am Peenestrom wurde die „Dr. WeisbrodRussStiftung in der Stiftung KiBa“ gegründet. Der Pastor der Kirche wählte als Predigttext: „Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.“ Und damit den Taufspruch von Martin Weisbrod. Ein Zufall nur, aber einer, den der Stifter als Zeichen verstand, dass in der Errichtung der Stiftung Segen steckte. Tatsächlich war sie für ihn der Beginn eines neuen Lebensabschnitts.
Martin Weisbrod hatte sich beruflich einen vorzüglichen Ruf erarbeitet; der Internist hatte die Praxis seines Vaters in Haßloch in der Pfalz in dritter Generation weiter geführt. Bekannt war er aber auch durch die Kunstausstellungen und Vernissagen in den Praxisräumen. In einem der Heime, die er bei Krankenbesuchen regelmäßig aufsuchte, war Christine Russ Leiterin der Pflege. Beide einte die Liebe zur Kunst, zu Reisen und irgendwann auch zueinander. Nach dem Ruhestand lebten sie sieben Jahre in Irland auf einem Anwesen und legten Obstplantagen an. Rechtzeitig vor dem Platzen der irischen Immobilienblase 2008 verkauften sie alles und kehrten in die Pfalz zurück. Die Stiftung wandelte einen absehbar ruhigen Ruhestand in eine letzte Lebensphase voller Aktivität, Entscheidungen, Begutachtungen und Veranstaltungen. Und brachte – nicht zuletzt – ein Netzwerk aus neuen Freundschaften mit sich.
Seit 2007 flossen Fördermittel aus der neuen Stiftung in Höhe von 544.035 Euro in die Bundesländer Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen. In den Jahren 2009 und 2011 wurde dabei nochmals in die Gründungskirche St. Nicolai zu Bauer in Wehrland investiert. Mit vier Förderungen steht dieses anmutige Gotteshaus damit auf Platz zwei der Förderliste der Namensstiftung.
Einsamer Spitzenreiter mit neun Förderungen aber ist eine Kirche in der zwischen Stralsund und Greifswald gelegenen Kleinstadt Grimmen. Die dortige St.-Marienkirche entstand ab dem späten 13. Jahrhundert. Der älteste Bauteil ist das frühgotische Langhaus. Ergänzt wurde es später durch einen Turm im gotischen Stil am westlichen Giebel. Der kreuzrippengewölbte Hallenchor kam im 15. Jahrhundert dazu. Im letzten Jahr ermöglichte die Stiftung die Installation einer Innenraumbeleuchtung, ein Jahr zuvor auch hier Fenster von Thomas Kuzio und 2020 eine Spezialität der Stiftung, die die Herkunft der betagten Stifter aus Pflege und Medizin belegt: die Anschaffung einer Induktionsschleife, damit hörbeeinträchtigte Menschen den Gottesdienst mitfeiern können. Nach der Feierstunde schreitet man in Neustadt an der Weinstraße zur obligatorischen Stärkung. In der Pfalz geht es dabei üppig und nahrhaft zu: Kartoffelsalat, Fleisch, Kuchen in Mengen. Und Wein, gern auch als Schorle, Wasser pur nur zur Not. Martin Weisbrod sitzt im Schatten eines Baumes und ist umringt von einer Schar von Weggefährten und Freunden. Mehr als die Spezialitäten seiner Heimat munden ihm die herzlichen Worte, die Anekdoten und Erinnerungen. Doch das hier ist nicht der Abgesang auf einen großen Wohltäter. Neue Projekte werden erörtert, Ideen schwirren herum, wie zuvor die musikalischen Schmetterlinge. Eine Stiftung, so ist zu erleben, ist eine wirksame Arznei gegen Einsamkeit, geistigen Stillstand und Entfremdung vom Leben. Ihre Spuren in den Kirchen sind eine Saat, die viele Generationen lang gedeihen wird.
Von Thomas Rheindorf
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- Von einem, der auszog, und dabei Kirchen half
Ein Nachruf auf Dr. Martin K. Weisbrod
- www.dr-weisbrod-russ-stiftung.de
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