„Her(r)bergskirche“ in Neustadt am Rennsteif (Thüringen)
„Her(r)bergskirche“ in Neustadt am Rennsteif (Thüringen)

Ein Bett mit Blick zum Altar

Übernachten in der Kirche

Im thüringischen Neustadt am Rennsteig lässt sich gut in der Kirche schlafen – natürlich nicht während der Predigt, sondern nachts in einem richtigen Bett. Die Gemeinde bietet ihre Kirche als „Her(r)bergskirche“ an. Übernachtungsgäste sind sehr willkommen.

Die Morgensonne kriecht am linken Bein des Erzengels im mittleren Chorfenster hoch. Die fünf Mosaikfenster, auf denen Michael mit sieben Schlangen kämpft, beginnen von unten zu leuchten, in Orange, Gelb, Hellblau. Je höher die Sonne steigt, desto mehr Licht fällt in den hohen Kirchenraum. Es ist früh am Morgen, der erste April. Ich sitze in Schal und Mantel in einer Kirchenbank, meine Bettdecke bis zur Schulter hochgezogen, einen Becher Kaffee in der Hand. Es war eine kalte, dunkle Nacht in der Michaeliskirche in Neustadt am Rennsteig. Und jetzt, am Morgen danach, fühlt es sich an, als ob das Leben und die Welt zurückkommt. Die Michaeliskirche nennt sich „Her(r)bergskirche“: Hier kann man für 15 Euro pro Person übernachten. In einer offenen Nische im hinteren Kirchenraum steht ein Holzpodest mit einer breiten Matratze mit zwei weiß bezogenen Daunen decken. Übernachten in Gotteshäusern – in England ist dies bereits ein Trend und heißt „Champing“ (aus Camping und Church). Deutschland steht da noch ganz am Anfang. In der Mitteldeutschen Kirche ist die Michaeliskirche die Vorreiterin. Was sie zudem von den leer stehenden Champing-Kirchen abhebt: Sie ist noch in Betrieb. Wer hier übernachtet, hört morgens die Glocken läuten und kann am Sonntag mit der Gemeinde Gottesdienst feiern.

Der Mann hinter der Idee ist Horst Brettel, 72, Gemeindekirchenrat und stellvertretender Bürgermeister von Neustadt. Ein Mann mit kurzen grauen Haaren, gebürtiger Franke, der vor 20 Jahren „der Gemeindehaushälterin Christel Traut macht das Bett in der Kirche Die Umgebung lädt zum Wandern ein Unsere Reporterin Hanna Lucassen hat in der Kirche gut geschlafen Liebe wegen“ nach Thüringen kam. Er holt mich am Vorabend des 1. April vom Bahnhof in Ilmenau ab. Nach Neustadt, ein Dorf mit 900 Einwohnern, fährt kein Zug. Die Straße schlängelt sich durch den tiefen Wald. Hier und da noch Schneereste. Nicht ungewöhnlich im April. Neustadt liegt auf 785 Metern Höhe. „Sie können immer noch ins Pfarrhaus ausweichen!“, sagt Brettel. Die Kirche hat keine Heizung und ist deshalb nur von April bis Oktober geöffnet. Ich bin der erste Ãœbernachtungsgast in diesem Jahr. Kneifen kommt nicht infrage.

Die Kirche ist mir gleich sympathisch. Eine neoromanische Chorturmkirche von 1859 aus grauem Stein. Innen viel Holz, wenig Schnörkel, trotz der zwei Emporen wirkt sie schlicht und nahbar. „Zum Glück haben wir keine Reichtümer“, sagt Brettel. „Wir müssen keine Angst haben, dass etwas gestohlen wird.“ Tagsüber ist die Tür immer offen. Über einen Hof geht's zum Hintereingang des geräumigen schieferbesetzten Pfarrhauses. Dort sind die Toiletten und Duschen und eine warme Küche, in der die Gäste sich morgens das Frühstück machen können. Ein Pfarrer wohnt hier schon länger nicht mehr, aber Christel Traut, 71, die Gemeindehaushälterin, die erst mal einen Kaffee kocht. „Wir nehmen uns Zeit für die Gäste“, sagt sie, „das ist ja keine ganz normale Unterkunft. Manche suchen einfach Ruhe, manche die Begegnung mit Gott, weil sie etwas auf dem Herzen haben.“ Sie gibt mir noch eine zweite Zudecke und die Kirchenschlüssel.

Es ist schon dunkel, als ich die Kirche von innen abschließe. Und nun? Einen Moment fühle ich mich verloren, doch das hält nicht lange vor. Der Raum strahlt Geborgenheit aus, Ruhe und Stille senken sich auf mich. Ich bin auf mich selbst zurück geworfen, ein bisschen der Welt entrückt – und fühle mich doch nicht allein. Ein besonderer Ort, den ich entdecken möchte. Ich streife durch die dunkle Kirche, laufe langsam die knarrenden Holztreppen hoch zur ersten Empore. Zur zweiten. In beiden Etagen stehen wie unten im Kirchenschiff lange Bänke. Unvorstellbar, dass man einmal so viele Sitzplätze brauchte.

Neustadt hatte Mitte des 19. Jahrhunderts etwa hundert Einwohner weniger als heute. Die Menschen waren arm und oft krank, so steht es in der Chronik des Ortes: Seit 1840 stellte man hier in Heimarbeit Zündhölzer aus hochgiftigem gelben Phosphor her – was mit einem unvorstellbaren Elend verbunden war: „Die Phosphornekrose (Knochenfraß) führte zu entsetzlichen Verstümmelungen, wenn nicht gar zum Tode.“

Wie wichtig wird den Menschen damals das Gebet in der Kirche gewesen sein? Heute ist Neustadt ein staatlich anerkannter Erholungsort. Der Tourismus ist die Haupteinnahmequelle. Der Rennsteig, ein etwa 170 Kilometer langer Höhenweg, geht mitten durch den Ort. Etwa 100 000 Wanderer laufen ihn jährlich. Im Winter kommen die Skilangläufer. Die evangelische Gemeinde hat rund 400 Mitglieder. Zum sonntäglichen Gottesdienst – im Winter im Pfarrhaus – kommen etwa 20.

Ich gehe die Treppen wieder herunter. Im Kirchenschiff ist sehr still. Ich bleibe vor vier Gedenktafeln aus Holz stehen, für die gefallenen und vermissten Neustädter im Zweiten Weltkrieg. Etwa hundert Namen stehen da, der Jüngste wäre bei Kriegsende 20 Jahre alt gewesen. Drei Kerzen stehen vor den Gedenktafeln auf dem Boden. Ich zünde sie an. Ich bin dabei unsicher. Darf ich das eigentlich?

Fast jedes Haus im Dorf wurde im Krieg durch Artilleriebeschuss beschädigt. Auch an den Kirchen entstanden erhebliche Schäden. Glasbausteine ersetzten nach dem Krieg zunächst die fünf zerstörten Fenster im Altarraum der Michaeliskirche. Erst 1989, kurz vor der Wende, schuf der Künstler Medardus Höbelt die jetzigen Glasmosaiken.

Wie kann man Kirchen in kleinen Orten wieder zum Leben erwecken? Ursprünglich hatte es zwei Kirchen in Neustadt gegeben. 2016 musste die Gedächtniskirche abgerissen werden. Das sollte mit der Michaeliskirche nicht passieren, wünschte sich Horst Brettel. Als im Frühjahr 2017 eine Gruppe junger Architekten anfragte, ob sie die Kirche probeweise zu einer Herbergskirche umwandeln könnten, war er sofort dabei. Die Architekten bauten eine Bettstatt für drei Personen mitten in den Kirchenraum und boten diese Übernachtungsmöglichkeit bei einer Onlineplattform an. Das schlug ein. Die Medien berichteten positiv, die Gäste schrieben begeisterte Kommentare ins Gästebuch – und die Gemeinde war verstimmt. Es gab hitzige Diskussionen, schließlich eine Gemeindeversammlung und eine Lösung: Das Bett fand einen neuen Platz in einer offenen Nische. Und ein Vorhang kam dazu.

Für dieses Jahr hat Horst Brettel schon 40 Anmeldungen. Finanziell lohne es sich nicht wirklich, sagt er. Aber die Kirche bleibe lebendig, weil wieder mehr Menschen sie nutzen und etwas mit ihr verbinden. Der Kirchenvorsteher möchte auch andere überzeugen mitzumachen. Seine Vision: Entlang des Rennsteiges können Wanderer von Herbergskirche zu Herbergskirche laufen oder radeln.

Ich schlafe übrigens sehr gut in der Kirche. Als ich am Morgen die Augen öffne, bleibe ich erst mal liegen. Mein Blick streift über die dunklen Bankreihen, den Hochaltar, hoch zu den Emporen. Seltsam vertraut! Später setze ich mich auf eine Seitenbank und warte auf die Glocken. Zuerst hört man ein schweres ächzendes Pumpen. Dann beginnen die Glocken zu läuten. Immer lauter. Immer heller. Der Morgen ist da.

Von Hanna Lucassen

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