Dorfkirche Kerkwitz in der Lausitz
Dorfkirche Kerkwitz in der Lausitz

Ein Riss geht durch das Land

Strukturwandel im Braunkohlerevier Lausitz

Es tut sich was im Lausitzer Braunkohlerevier: Dörfer und Kirchen, die abgerissen werden sollten, können jetzt bleiben. Doch die Gräben sind tief. Nicht nur in der Erde. Es geht um der Erhalt von Arbeitsplätzen gegen den Schutz von Natur und Heimat. Kirchen und Gemeinden können vermitteln.

Roswitha Koch erinnert sich noch an den Schock vom Sommer 2007, als wäre es gestern gewesen: Sie und ihr Mann hatten schon die Koffer gepackt für einen Urlaub auf Mallorca, da kam der Anruf eines Freundes: "Habt ihr gehört? Der Tagebau Jänschwalde wird erweitert, Kerkwitz soll abgebaggert werden." Es wurde der schrecklichste Urlaub ihres Lebens: "Keine Nacht haben wir geschlafen." Immer musste sie daran denken, dass nun auch ihr Dorf und ihre Kirche dem Braunkohletagebau weichen sollten. Für Roswitha Koch war das etwas, das sie sich kaum vorstellen konnte.

Seit Anfang des letzten Jahrhunderts wird in der Lausitz an der heutigen Grenze nach Polen Braunkohle gefördert. Bei Google Earth kann man es von oben genau sehen: Wie hässliche braune Kraken fressen sich die riesigen braunen Sandflächen tief in die aufgerissene Erde hinein. Dutzende von Dörfern in der Lausitz sind bereits verschwunden durch Abriss oder "Devastieren", wie es im Beamtendeutsch heißt. Auf der anderen Seite sichert der Tagebergbau gut dotierte Arbeitsplätze und die Infrastruktur für die Lausitz. Mit der Wende begann der Einstieg aus dem Ausstieg, von damals mehr als 80 000 Menschen in der Bergbaubranche verloren 90 Prozent ihren Job. Heute hängen noch rund 8000 Arbeitsplätze direkt am Bergbau, gut 10 000 indirekt. Mit dem beschlossenen Kohleausstieg bis spätestens 2038 sind auch sie bedroht. Ein Riss geht durch die Dörfer und Städte. Denn wer für den Erhalt dieser Arbeitsplätze kämpft, kann nicht gleichzeitig für den Erhalt von Dörfern und Kirchen sein.

Für Roswitha Koch war immer klar, auf welcher Seite sie steht: Sie wollte vor allem ihr Dorf und ihre Kirche erhalten. 69 Jahre ist sie heute alt. Seit über 300 Jahren besitzt ihre Familie ein Grundstück in Kerkwitz, auf dem sie noch heute lebt. In der Gustav-Adolf-Kirche wurde sie konfirmiert, hier hat sie ihre Kinder großgezogen und lebt sie heute mit ihren Enkeln. Roswitha Koch hat wunderschöne alte Fotos vom Dorfleben und der Kircheinweihung am 2. Juni 1952 gesammelt: Damals kamen rund 4000 Menschen aus der ganzen DDR nach Kerkwitz. Landesweit hatten Kinder für den Kirchbau Spenden gesammelt. Zudem hatte das Gustav-Adolf-Werk, das evangelische Hilfswerk für Diasporagemeinden, den Kirchenbau in Kerkwitz zu seinem "allgemeinen Liebeswerk 1951" erklärt und den Neubau finanziert.

Zehn Jahre kämpfte Roswitha Koch, zusammen mit Tausenden von Menschen, Bewohnern der Region und Umweltaktivisten, die für Demos, Sit-ins und andere politische Aktionen in die Lausitz kamen. Seit dem Sommer 2017 steht fest: Der Tagebau Jänschwalde kommt nicht, Kerkwitz kann bleiben, ebenso die beiden anderen bedrohten Orte Atterwasch und Grabkow.

Als Dschin-u Oh 2015 Pfarrer der Evangelischen Kirchengemeinde Region Guben wurde, dacht er erst, er könne den gesellschaftlichen Konflikt aus seiner Arbeit heraushalten. Elf Predigtstätten betreut der 41-Jährige zusammen mit seiner Frau, darunter auch die Dorfkirchen von Kerkwitz und Atterwasch. Seinen auffälligen Namen hat er vom koreanischen Vater; Ehefrau Ina Piatkowski-Oh spricht dank ihres polnischen Vaters die Landessprache der Nachbarn, ein unschätzbarer Vorteil in dem durch die Neiße geteilten Ort Guben/Gubin. Zwei kleine Kinder haben die beiden: Anselm und Hilda. Am Telefon berlinert und lacht Pfarrer Oh ohne Pause. Seine Arbeit bringe ihm Freude und Erfüllung, auch wenn gerade die Startzeit nicht einfach war.

Denn schnell wurde ihm klar: Sich raushalten geht nicht. "Die Leute hier sind wirklich traumatisiert", sagt der Pfarrer. Er kenne Dörfer, da wechsle man noch heute die Straßenseite, wenn jemand aus der "Gegenpartei" entgegenkomme. Oft geht der Riss mitten durch die Familien. Eltern, die jahrzehntelang, oft schon in zweiter oder dritter Generation, im Bergbau gearbeitet haben, waren in der DDR so etwas wie "Helden der Nation" und erleben heute, dass sie von ihren "Fridays for Future"-Kindern als Ewiggestrige beschimpft werden. Und in den Kirchengemeinden ist es genauso: "Fromm kann jeder sein", weiß Pfarrer Oh, ob "Kohle-Gegner oder Kohle-Freund."

Versöhnen, Gegner wieder miteinander ins Gespräch bringen - wer, wenn nicht die Kirche, ist hierfür prädestiniert? In seiner Gemeinde versucht Pfarrer Oh, Gegner und Befürworter der Energiewende an einen Tisch zu holen - was oft mühsam ist. Auf regionaler Ebene hat die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz dafür im Jahr 2017 das Zentrum für Dialog und Wandel in Cottbus gegründet, als klar wurde: Fast alle Dörfer in der Lausitz können bleiben, aber längst nicht alle können sich darüber so freuen wie Roswitha Koch in Kerkwitz. Denn immer noch herrscht Unsicherheit: Kommt jetzt die Energiewende und kommen tatsächlich neue Arbeitsplätze?

Seit Januar dieses Jahres leitet Pastor Matthias Scheufele das kirchliche Dialogzentrum. "Die Menschen hier brauchen endlich Stabilität, nicht nur wirtschaftlich, sondern auch emotional", sagt der 63-jährige gebürtige Berliner. In einem der immer noch vom Abbaggern bedrohten Orte soll nun schon zum zweiten Mal der Friedhof umgebettet werden. Auch wenn es sich nicht um einen kirchlichen Friedhof handelt, will Matthias Scheufele tätig werden. Er hatte Gespräche geplant, mit Vertretern aus dem Dorf, der Kirchengemeinde und der Industrie. Nun hat die Corona-Krise erst einmal alle Termine über den Haufen geworfen. Doch Matthias Scheufele ist telefonisch ansprechbar und macht Pläne für die Zeit danach. Er wird gebraucht als Mittler und Mediator. Die Menschen beider Seiten müssen ihre Geschichten erzählen dürfen, sagt er und berichtet von einem ehemaligen "Kumpel", der jetzt in seiner Privatgarage ein kleines Bergbaumuseum errichte: "So kann der Abschied gestaltet werden."

Schon 2017 waren die Kerkwitzer eingeladen, ihre Geschichten zu erzählen. Im "Reformationssommer" der EKD war Kerkwitz als einziges Dorf neben 67 Städten in ganz Europa für den "Stationenweg" auserwählt worden. Und so machte der große blaue Ausstellungs-Truck im Mai 2017 hier Station. Es wurden wie überall Geschichten aus dem Ort eingesammelt. Über der Kirche hing ein großes Banner: "Die Energiewende ist die Reformation des 21.Jahrhunderts."

Das ganze Dorf feierte damals. "Da herrschte eine Power und eine positive Energie, das war einfach unglaublich", erinnert sich Pfarrer Oh. "Wissen Sie, hier lebt halt ein Menschenschlag, der zwar unheimlich stur sein kann, aber auch eine Wahnsinnsenergie aufweist." Wie Matthias Scheufele ist auch er davon überzeugt, dass der Wandel am Ende gelingen wird.

Der Kohleausstieg und die Kirchen

Spätestens in 20 Jahren sollen in Deutschland alle Kraftwerke abschalten, in denen Braun- und Steinkohle verbrannt werden, um daraus Strom zu erzeugen. Um die Folgen eines Kohleausstiegs für die betroffenen Regionen - neben der Lausitz das mitteldeutsche Revier bei Leipzig und das rheinische Revier westlich von Köln - abzufedern, stehen 40 Milliarden Euro bereit. Davon ist fast die Hälfte - 17 Milliarden Euro - für die Bergbauregion in der Lausitz bestimmt. Allerdings: Noch sind die Empfehlungen der Kohlekommission kein Gesetz, das soll im Herbst 2020 folgen. Erst dann dürften auch die meisten vom Abriss bedrohten Dörfer und ihre Kirchen wie Kerkwitz gerettet sein. Nur im rheinischen Braunkohlerevier gibt es aktuell noch Pläne, dass zwei Dörfer mit ihren katholischen Kirchen der Braunkohle weichen sollen.

Von Dorothea Heintze

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