Junges Leben in alter Kirche
Das Martinszentrum Bernsburg in Sachsen-Anhalt
Bücher unter der Orgel, Sportbänke im Kirchenschiff, ein Glaskubus als Werkraum und Chorempore: Das Martinszentrum in Bernburg verbindet Kirchengemeinde, evangelische Schule, Kita und Hort. Dank der vielfältigen Nutzung konnte das Gotteshaus erhalten werden.
Elena bringt es sofort auf den Punkt. Was sie an ihrer Schule liebt? "Ich finde, die ist einfach göttlich." Finn erinnert sich so gerne an die letzte Lesenacht: "Da sind wir die Treppe in der Kirche nach oben in den Leseraum gestiegen und durften dann sogar dort oben schlafen." Und Paul findet es super, dass er viele Mädchen und Jungs aus seiner Klasse schon "seit seiner Kindheit" kennt. Paul ist zehn Jahre…
Elena, Finn und Paul gehen in die 4. Klasse einer evangelischen Grundschule. Wie sie da so in ihrem Klassenraum sitzen, deutet nichts auf den außergewöhnlichen Ort hin, an dem sich diese Schule befindet: mitten auf einem Kirchgelände und zum Teil sogar direkt in der Kirche. Wir sind im Martinszentrum in Bernburg, Sachsen-Anhalt.
Die 1884 bis 1887 erbaute Martinskirche steht direkt an der viel befahrenen Hauptverkehrsstraße von Bernburg. Doch der direkte Blick auf den neugotischen Bau ist nicht möglich: Wie eine große Sichtbarriere umgibt eine hohe hölzerne Wand das gesamte Kirchgelände. Ein Kreuzgang? Beim Näherkommen können Besucher durch große Glasfenster zwischen den Holzbalken ins Innere blicken. Dort toben Kinder auf dem Rasen herum, es gibt Schaukeln, Kletterbäume und Rutschen. Und es wird klar: Kirche und Kirchhof sind nicht nur durch einen Sichtschutz aus Holz umgeben, sondern auch von einem langgestreckten, flachen Holzgebäude, worin sich Schule, Hort, Kita und Krippe befinden.
Die richtige Idee zum Richtigen Zeitpunkt
Am Eingang warten bereits der geschäftsführende Pastor des Martinszentrums, Lambrecht Kuhn, und die als Vertreterin der Landeskirche aus Dessau angereiste Oberkirchenrätin Ramona Möbius. Beide sind es gewohnt, dass Gäste kommen, um diesen außergewöhnlichen Ort zu besichtigen. Denn hier ist etwas geschehen, was vielen Kirchen nicht gelingt - eine wirklich sinnhafte Nutzungserweiterung. Wie in jeder anderen Gemeindekirche finden hier sonntags Gottesdienste statt. Doch unter der Woche von Montag bis Freitag beleben Kinder, Eltern, Lehrkräfte sowie Erzieherinnen und Erzieher Kirche und Kirchhof.
Lambrecht Kuhn führt uns durch den Schuleingang zunächst direkt in die Kirche hinein. Im Haupteingang, direkt unter der Orgel, stehen Trommeln, Notenständer, ein Podest für den Chor: Dies ist der Musikraum. Weiter im Inneren der Kirche überrascht dann ein zweistöckiger gläserner Kubus, unten Turnraum, oben Werkraum und in der kalten Jahreszeit auch Winterkirche. Die gläsernen Fronten oben wie unten lassen sich komplett zum verbliebenen Kirchenraum hin öffnen. Bei Einschulungsgottesdiensten, Schulfeiern und an Festen wie Ostern und Weihnachten kann so der Chor von oben singen und mehr Gäste finden Platz. Vor dem Altar stehen Stühle statt Bänke. Rechts und links in den Seitenschiffen befinden sich die Umkleideräume für den Sportunterricht. Und oben auf der Orgelempore wurde die Schulbibliothek eingerichtet. Gerade ist Pause - ein paar Kinder schmökern oder leihen sich Bücher aus, darunter auch Elena, die es hier so "göttlich" findet.
Aus dem Seiteneingang geht es direkt in den Schulbau. Wir besichtigen Krippe, Kita und Hort. Was woanders Schulkantine heißt, nennt sich hier "Durchdringungsraum": Der Saal liegt genau an der Schnittstelle zwischen den verschiedenen Einrichtungen. Überall lichte Räume, einige sogar als Freiluftklassenzimmer mit Holzterrasse und ohne Dach konzipiert, überall Fenster hin zum begrünten Kita-Spielplatz und dem Pausenhof mit Kletterbaum und Ballspielplatz. Keiner der Bäume musste 2006 bis 2007 während der Bauarbeiten gefällt werden. Der auf Stelzen konzipierte Bau schützt die Wurzeln, ein maximal nachhaltiges und modernes Konzept. Kein Wunder also, dass das Martinszentrum schon mehrere Architekturpreise gewann, und 2009 sogar für den weltweit wichtigsten Wettbewerb, den Mies-van-der-Rohe-Preis, nominiert wurde.
Architekturpreise für das Martinszentrum
Wie kam das alles? - Es war schlicht die richtige Idee zum richtigen Zeitpunkt: Um die Jahrtausendwende drohte die Schließung der maroder werdenden Kirche, zumal auch die Zahl der Gemeindeglieder abnahm. Zugleich gab es eine Grundschule, einen Hort und eine Kita, alle in kirchlicher Trägerschaft, die in ebenfalls stark sanierungsbedürftigen Gebäuden in der Stadt verstreut waren. Den zündenden Funken brachte ein Pausengespräch zwischen Pfarrer Kuhn und seinem Gemeinderat: Warum nicht alles zusammenlegen? Warum nicht den ganz großen Wurf wagen?
Sie wagten es und haben gewonnen. Vier Millionen Euro konnten verbaut werden, das Geld kam zum großen Teil aus einem bundesweiten Fonds zur Förderung von Ganztagsschulen. Ein Architekturbüro hatte die geniale Idee mit dem Stelzen-Schulbau aus Holz, ökologisch, ganz im Sinne der Bewahrung der Schöpfung. Und dann als Trägerin die anhaltinische Landeskirche, ein winziges "gallisches Dorf" in der großen EKD mit kurzen Wegen und einfacher Struktur, so beschreibt es treffend Roswitha Möbius von der Landeskirche.
Trotz aller Begeisterung: Es gibt auch kritische Stimmen. Da stecke man viel Geld, auch das der Gemeinde, in den Erhalt einer Kirche, die man dann nicht mehr frei nutzen könne; Kinder spielten dort täglich herum, doch sonntags bei den Gottesdiensten bleibe es relativ leer, und auch die Zahl der Gemeindeglieder sank in den vergangenen Jahren von rund 1800 auf 1200. Wo bitte sei da der Mehrwert für die Kirchengemeinde? Als Gemeindepfarrer kann Lambrecht Kuhn die Ein würfe gut nachvollziehen. Tatsächlich steht die Kirche unter der Woche der Gemeinde kaum zur Verfügung. Andererseits: Ohne die Schule gäbe es wohl gar keine Kirche mehr. Sie wäre wegen Baufälligkeit geschlossen, wenn nicht abgerissen worden. "Ich finde", so der Kirchenmann, "da kann man ein paar turnende Kinder im Gebetsraum gut aushalten." Dank des Schulzentrums konnte nicht nur der Bau erhalten bleiben, sondern es gibt auch neues Leben in der Gemeinde: Kita-Kinder, die beim Geburtstagskaffeetrinken der Gemeinde auftreten; Schulkinder, die beim Besuchsdienst mitmachen oder in den Gottesdiensten etwas vorführen, eine gut gefüllte Kirche bei Einschulungsgottesdiensten, Christenlehre in der Kirche und vieles mehr.
Dabei will Lambrecht Kuhn nichts schönreden. Denn da, wo in einer Kirche Turnunterricht stattfindet und der Kirch- zum Pausenhof wird, gelten kosten trächtige bauliche Sicherheitsvorschriften. Gerade wird der Turm saniert, 260 000 Euro kostet allein der erste Bauabschnitt. Demnächst sind die maroden Dachstützen dran - sie würden beim Herunterfallen direkt auf den Schulhof stürzen. Auch hier muss schnell gehandelt werden. Doch der Pfarrer bleibt optimistisch âˆ' mit gutem Grund: Denn es gibt viel Unterstützung. Zum Beispiel von der Stiftung KiBa, die seit 2008 das Zentrum mit 36 000 Euro gefördert hat.
Das ist gut investiertes Geld. Denn was das Martinszentrum wirklich leistet, zeigen die Gespräche mit den Kindern, mit den Eltern oder den Erzieherinnen. Hortleiterin Ina Rakoczy zum Beispiel, die seit 2004 dabei ist, sagt, dass sie keine Minute bereut habe. Alle im Team arbeiteten eng zusammen, ob nun aus der Krippe oder der Schule, das spare Ressourcen und schaffe viel Freiraum für sie und ihr Team. Roswitha Meißner, 47 Jahre alt und Pfarrerin, fährt nun schon ihren zweiten Sohn täglich 30 Minuten zur Schule: "Wir sind extra hier in die Region gezogen, weil wir eine Schule mit kirchlichem Hintergrund wollten", sagt sie.
Annett Krätsch hat ein Kind mit Integrationsbedarf in der Schule und ist überzeugt davon, dass das pädagogische Konzept - jahrgangsübergreifend, alle helfen sich gegenseitig und nehmen Rücksicht aufeinander - entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung ihrer Tochter hat. Oder um noch mal zu den Kindern der 4. Klasse zurückzukommen: Seid ihr gern hier? Einmütige laute Antwort im Chor: "Jaaaaa!"
Von Dorothea Heintze
Dieser Artikel erschien zuerst im Stifungsrundbrief "KiBa aktuell". Den können Sie auch kostenlos abonnieren, vier Mal im Jahr kommt er dann zu Ihnen ins Haus. Interesse? Dann melden Sie sich im Stiftunsgbüro - per Telefon, Post, oder E-Mail.